zum IMPRESSUM
Text
zum
Neudenken:
Des Menschen Sohn
1 [...] Die Religionsgeschichte hat längst in Fülle Material dafür herbeigeschafft, daß Leiden, Sterben und Auferstehen am dritten Tage, daß die Vorstellung »vom leidenden, sterbenden und auferstehenden Gottheiland« bereits in den vorchristlichen Religionen des vorderen Orients eine zentrale Rolle gespielt habe. Man hat oft daraus gefolgert, es müsse also der Bericht von Tod und Auferstehung Christi auch »bloß ein Mythos« sein, der nach dem Muster der phönizischen oder anderer Mythen und Kulte erfunden worden sei. Der eigentliche Tatbestand ist nicht schwer zu erkennen und wird fortwährend durch die religionsgeschichtliche Forschung deutlicher ans Licht gerückt: Überall, wo Einweihungen vollzogen wurden in den vorchristlichen Tempelstätten, da trat im Ewachen des »Geistesmenschen«, des »Menschensohnes«,[a] das Gesetz von Leiden, Sterben und Auferstehen in die Erscheinung; und wurde in den Bildern des Mythos und des Kultus dem Volke verkündigt, von dem Samenkorn-Mythos in Eleusis [b] bis zu dem Adonis-Dienste Phöniziens [c]. Der Durchgang durch die Stufen von Passion, Tod und Auferstehung war in der Einweihung die »Wiedergeburt« des Menschen, die Geburt des höheren Menschen, des Sohnes im Menschen, des »Menschensohnes«. Und als Christus beginnt, den Jüngern von Passion, Tod und Auferstehung zu reden, enthüllt er vor ihnen ein hohes geistiges Gesetz, er prägt in Erdenworte eine Figur, die im geöffneten Himmel für das Auge der Seher und Weisen immer schon sichtbar gewesen war. Er stellt sogar diese Unterweisungen in eine ihrer lebendigen Erdenerfüllungen hinein. Denn jene Tage waren erfüllt von dem Sterben und der Auferweckung des Lazarus und dem, was diesem Ereignis voranging und folgte. Wie an Jonas [d] im Alten Bunde, so erfüllt sich jetzt im Neuen Bunde an Lazarus, daß der Menschensohn sterben und nach drei Tagen auferstehen muß.
S.347f
2 Das Erwachen des Ich-Impulses in der Menschheit ist ja der unsichtbare Sprengstoff, der die Explosion hervorruft und bewirkt, daß kein Stein auf dem anderen bleibt. Bis dahin sind die Menschen Glieder der Gemeinschaft von Volk [, Sippe] und Familie gewesen. Die Gemeinschaften waren durch die alten Formen und Fügungen und Sitten und Gesetze zusammengehalten. Sobald der Einzelmensch, das Individuum, sich auf sich besinnt, ist der Keim der Auflösung vorhanden, der Kampf aller gegen alle hebt langsam an. Und doch schwebt über dem erwachenden Ich ein Geheimnis. Denn darin liegt ja die Würde und Freiheit, zu der der Mensch sich emporringen soll, daß er in innerer Selbständigkeit, nur auf sich selbst gestellt, sein Menschentum verwirklicht. Am Anfang steht die [notwendige] Gemeinschaft der Menschen, die noch nicht Ich-Menschen sind. Dann folgt das Auseinanderfallen der Gemeinschaften in lauter voneinander getrennte [Kleingruppen, später] Ich-Menschen. Und schließlich öffnet sich das Tor zu der Gemeinschaft freier Ich-Menschen, zu einer Gemeinschaft höherer Art. Es gibt also zwei Stadien des Ich-Werdens: die Auflösung und die Erfüllung. Im ersten Stadium wirkt das Ich als niederes Ich.[e] Im zweiten hat das Gefäß des niederen Ich einen höheren göttlichen Inhalt empfangen: das höhere [eigentliche] Ich lebt in ihm, das ein göttliches Wesen ist: der Menschensohn. Wenn die Menschen dazu reifen, das höhere Ich in sich zu gebären und in sich aufzunehmen, nehmen sie das Christuswesen in sich auf. »Christus in uns« wird zur Tatsache.[f ...]
S.358f
3 [...] In einer Weltenkrise leiden nicht nur Menschen, sondern auch Götter. Im Seelenlande sind diejenigen Menschen die Schwangeren die, in denen sich die Geburt des »Menschensohnes«, des Geistesmenschen, vollziehen will. Wie jede Mutter, so muß der Mensch zu dieser Geburt die Wehen ertragen. [...] Das heutige Chaos auf sexuellem Gebiet,[g] die Rolle der Frau in der heutigen Welt, mögen Andeutungen sein von dem Wehe, das für die Ich-Krisis den Schwangeren und Säugerinnen ertönt.
S.365
4 Das Kommen des Menschensohnes ist der Aufgang im Niedergang. Es ist wichtig, die doppelte Seite dieses Ereignisses zu fühlen. Es spielt sich im Innern des Menschen und im äußeren Kosmos zugleich ab. [...] Erst wenn im Menschen der Menschensohn geboren wird, ist der Mensch imstande, Christus, den Menschensohn, zu schauen. Christus im Menschen ist das Auge für den Christus im Kosmos.
S.366f
5 Nun ist aber das »Kommen des Menschensohnes« im Sinne des Evangeliums nicht ein physisches, sondern ein übersinnliches Ereignis, das sich in der ätherischen Welt abspielt.[h] Die Scheidung der Geister, die an diesem Ereignis entsteht, geht nicht so vor sich, daß ein Mensch auftritt, dem die einen Menschen glauben und anhängen und gegen den die anderen ankämpfen. Sie tritt dadurch ein, daß die einen den wiederkehrenden Christus wahrnehmen können, während die anderen überhaupt nichts von seiner Anwesenheit spüren und bemerken. Die große Frage ist: werden bis zu diesem Ereignis Menschen auf der Erde sein, die das offene Seelenauge errungen, das geistige Organ ausgebildet haben, das sie instand setzt, in die Sphäre zu schauen, in welcher sich das »Kommen des Menschensohnes« vollzieht?
S.709
Emil Bock
aus «Das Evangelium»
Unsere Anmerkungen
a] ὁ ὑιὸς τοῦ ἀνϑρόπου (ho hyiòs tũ anthrópu)
b] Die Mysterien von Éleusis waren der Deméter geweiht.
c] siehe Adonis
d] vgl. E.Bock zu Jona u. Wal
e] als Ich-Projektion (Ego) im irdischen Seelenbereich (siehe Mbl.5: Anm.3)
f] vgl. Gal.2,20
g] siehe Mbl-B.30
h] siehe zB. R.Steiners Vortrag vom 6.III.1910
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn202403.htm