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Merkblatt 1:
Rudolf Steiner
und das anbrechende XX.Jahrhundert
1a Das XIX.Jahrhundert hatte der Welt eine Fülle von einschneidenden Veränderungen gebracht, sodass man dem folgenden Jahrhundert mit großen Erwartungen entgegensah. Die Wissenschaft brachte umwälzende Entdeckungen und Erfindungen, der menschheitliche Erfahrungs- und Wissenshorizont erweiterte sich in immer rascherem Tempo. Die Wirtschaft begann, die Erde zu umspannen, die Volkswirtschaften wurden allmählich von einer Weltwirtschaft abgelöst. Die Politik der maßgeblichen Kräfte führte in Europa zur Vorherrschaft der verschiedenen Kolonialstaaten (Frankreich, Großbritannien, Niederlande, Spanien u.a.), zur italienischen Einigung (1861) und zur Bildung des Deutschen Reiches unter Preussen (1871), während die österreichisch-ungarische Monarchie sowie das russische Zarenreich stagnierten und das osmanische Reich allmählich zerfiel. In Amerika kam es vor allem zur Konsolidierung der Vereinigten Staaten,¹ die deren Weltmachtstellung ermöglichte. Auf dem afrikanischen und dem asiatischen Kontinent hingegen verelendeten große Teile der Bevölkerung.
1b Der Beginn des XX.Jahrhunderts freilich mündete politisch in den I.Weltkrieg (1914-18), wirtschaftlich in die Depression der Zwanzigerjahre und wissenschaftlich zum Beispiel in Pluto-Entdeckung (1930) oder Atomkern-Spaltung (1937). Und der Name Sarajevo wurde zum Fanal des Zusammenbruchs alter europäischer Ordnungen.² Was war geschehen?
1c Das geistige Leben der Menschen konnte mit dem physisch-materiellen nicht Schritt halten, in der Folge verkümmerte das seelische Leben oder zog sich zurück. Der Philosophie, Mutter aller Wissenschaften, waren ihre Kinder unbegreiflich geworden, sie verödete in Materialismus und Positivismus. Die abendländische Theologie focht ein Rückzugsgefecht nach dem anderen, zum Christus als geistigem Wesen hatte sie kaum noch Zugang; die Protestanten empfanden Jesus als „schlichten Mann von Nazareth”, und das Papsttum meinte, sich ins Unfehlbarkeitsdogma (1870) retten zu müssen. Einzelne Menschen sahen durchaus die drohende Katastrophe kommen,³ aber keine Stimme konnte entscheidend durch das geschäftige Klirren der modernen Zivilisation dringen.
Denkmal im Wiener Schweizergarten © 2021 by DMGG 1d In diese Zeit wurde Rudolf Steiner hineingeboren. Er kam 1861 als Sohn einer einfachen Eisenbahnerfamilie in Kraljevec zur Welt und wuchs im Osten Österreichs auf. Dort nahm er auf, was sich ihm darbot, erst etwas verträumt das Begegnen von Natur und Technik,⁴ das Landleben, die verschiedensprachigen Leute (Deutsche, Kroaten, Tschechen, Ungarn), später dann wach die Vielseitigkeit des Wiener Kulturlebens,⁵ die Wirren der Politik, die weltweite Verflochtenheit des Handels. Rege nahm er teil an der kulturellen und politischen Diskussion seines Umfeldes, zu der er bereits als Einundzwanzigjähriger Artikel veröffentlichte.
1e Bald wurde der aufstrebende junge Mann eingeladen, Goethes naturwissenschaftliche Schriften herauszugeben. In den Neunzigern arbeitete er in Weimar, wo er mit führenden deutschen Gelehrten bekannt wurde. Danach zog er ins pulsierende Berlin der Jahrhundertwende, die er als hellwacher Zeitgenosse beobachtete.⁶ Hier begann dann seine eigentliche, weitgefächerte Wirkung. Denkmal im Wiener Schweizergarten © 2021 by DMGG
1f Neben dieser äußeren Welt erlebte Steiner von klein auf noch eine andere: eine reiche, vielfarbige Bilderwelt, neben der das Äußere immer wieder zu verblassen drohte. Über diese innere Seite seiner Erfahrung konnte er sich anfangs nur schlecht austauschen, denn zum einen hatte er wenig geeignete Begriffe, um hier
Denkmal im Wiener Schweizergarten © 2021 by DMGG auszudrücken, was er erlebte, zum anderen schien sich kaum jemand ernsthaft dafür zu interessieren, insbesondere dann, wenn der junge Rudolf auf der Wirklichkeit⁷ jener Welt bestand. Was er seinerseits an Spiritualität vorfand, etwa das aufs physisch Begreifbare beschränkte Christentum oder die aus dem Osten verworren übernommene Geistigkeit, lehnte er zunehmend ab; derlei konnte vor seiner Kenntnis nicht bestehen. Er nahm sich vor, die andere Welt mit einem wissenschaftlichen Erkenntnisansatz⁸ zu erforschen, wie er sich ihn durch sein Studium erworben hatte. So wurde durch diese Individualität aus jenen Zeitumständen heraus der Grund für eine Wissenschaft vom Geistwesen
gelegt und von 1901 an vorgetragen und fortentwickelt.
1g Wir Menschen im XXI.Jahrhundert können in der von Rudolf Steiner gegebenen Geisteswissenschaft ein Mittel finden, auch die Fragen unserer Zeit zu erkennen und uns ihnen zu stellen. Nicht mit abgelebten Ideen oder verflossenem Geistesgut, gar Ideologien, werden wir dem Zeitgeschehen standhalten können, sondern - und das stellt sich immer eindringlicher heraus - nur mit von uns selbst erarbeitetem und damit lebendig gemachtem Wesensgehalt⁹, den wir dann auch selbst verantworten müssen. Anthroposophie kann eine greifbare Hilfe dazu bieten.
Tafel im Wiener Schweizergarten © 2021 by DMGG
Ergänzung
2a Ich zog also die Geheimwissenschaft aus dem Regal, um etwas so Einfaches wie eine kleine Fabel oder einen Sensationsbericht zu lesen, da ich nichts anderes zur Hand hatte. Ich schlug das Buch aufs Geratewohl in der Mitte auf, und mein Blick fiel auf einen Satz, der mich unmittelbar berührte: er schien mir etwas sehr Vertrautes zu sagen; ich las und las den Abschnitt noch einmal, dachte ein wenig darüber nach, und der Eindruck, vor etwas Wesentlichem zu stehen, verstärkte sich allmählich in mir. Ich las, was vor und was nach dieser Stelle kam, und nach und nach gewann ich die Sicherheit, dass ich das vor mir hatte, was ich schon lange erwartete. Anhand der UR hatte ich bereits Bände Steiners wie Initiation und Initiaten-Bewusstsein gelesen und geschätzt, aber da ich Evola und Guénon treu gefolgt war, hatte ich von diesen Autoren eine harte Kritik und Vorbehalte gegenüber der Lehre Steiners übernommen. Ich kenne seit Jahren eine Reihe von Suchenden, die aufgrund dieser Kritik die Anthroposophie Rudolf Steiners abgelehnt haben: ich kenne niemanden, der nach der Übernahme dieser Kritik die Kraft gehabt hätte, seine Meinung zu ändern und durch eine eigenständige kritische Revision, in Steiner etwas mehr als einen Meister zu erkennen, den Meister.¹°
2b Unvermittelt verstand ich also, dass mich vielleicht eine neue Aufgabe erwartete, eine Überprüfung der Werte, auf die ich mich bisher gestützt hatte. Ich stürzte mich in die Lektüre der Geheimwissenschaft, um die Bestätigung für einen genauen inneren Eindruck zu erhalten: von Seite zu Seite begann ich, die mir vertraute Landschaft zu erkennen: aus dieser Darstellung leuchtete jedoch eine Bedeutung auf, wie die innere Relation oder die Essenz, die allem einen Sinn gab: es war diese innere Relation, die ich suchte: die Idee, deren Sprache oder Alphabet die Reihe von Bildern war: und diese Bedeutung bezog sich im Buch selbst auf eine Methode des Erkennens, der Kontakt mit ihr war für mich auch wie ein Wiedererkennen oder ein Erinnern von etwas, das ich bereits mit meinen Mitteln verwirklicht hatte, indem ich den Yoga zu meinem Yoga machte.
2c Ich erinnere mich, dass ich an jenem Tag, als ich das Buch schloss, zum ersten Mal die Idee hatte, dass sich hinter der Gestalt und dem Werk Rudolf Steiners die Persönlichkeit des Meisters verbarg, den viele verzweifelt im Orient oder in den Falten der Tradition suchten. Ich fand mich vor einem entscheidenden Beweis: Steiner beantwortete grundlegende Fragen der Seelenerfahrung, zu denen es nach meiner unmittelbaren Beobachtung weder in Asien noch in Europa adäquate Kenner der Esoterik gab. Er war der absolute Beherrscher des Themas, das ich mit meinen Mitteln zu durchdringen versucht hatte, indem ich mir die verschiedenen Lehren zunutze machte, mit kaum sichtbaren Ergebnissen [...]
2d In der Tat ergab sich für mich, dass über diese Stufe des Bewusstseins nur jemand mit solcher Sicherheit sprechen konnte, der mit der Sphäre der Kräfte vertraut ist, die auf dieser Ebene wirken: eine wahrhaft übermenschliche Ebene. Beim Lesen der Seiten Steiners war mir klar, dass sein Problem nicht die Durchdringung des Übersinnlichen war, in dem er sich wirklich wie in einer vertrauten Welt und zugleich mit Autorität bewegte, sondern die Beschreibung dieser Durchdringung in einer Sprache, die dem Typus Mensch zugänglich ist, dessen endemisches Übel der Intellektualismus darstellt.
2e Steiners Art sich auszudrücken schien mir ganz Opfer auf der Ebene der Sprache zu sein, nicht um durch Worte zu glänzen oder zu überzeugen, sondern um dem Schüler zu helfen, die Barriere der Worte, die Dialektik, zu überwinden. Die esoterischen Autoren beziehen sich normalerweise auf die übersinnliche Erfahrung anderer oder auf die Tradition. Er bezieht sich auf seine eigene Erfahrung. Die anderen berufen sich wie auch immer auf die Meister der Vergangenheit, er aber zeigt sich als der Meister; dem man aber, eben wie gesagt, am schwierigsten näher kommen kann.
S.24f
2f In Absicht der Treue zur Lehre Rudolf Steiners wird die Zugehörigkeit zu seiner Bewegung gerade durch die Autonomie in der Verbindung mit der Gesellschaft wirklich, die letztlich die Stärke der Gesellschaft bildet, ist doch die Zugehörigkeit der innere Akt. Man kann sich aber auf Normen, Statuten, Richtlinien berufen, die zu Recht gewisse Regulierungen fordern. Man darf jedoch nicht vergessen, dass diese Normen Ausdruck einer bestimmten Zeit sind, seit der mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist.
S.30
Massimo Scaligero
aus «Vom Yoga zum Rosenkreuz»
Anmerkungen
1 nicht ohne Sklaverei, Indianerausrottung und Sezessionskrieg (1861-1865) - Kanada erhielt überhaupt erst 1931 volle Autonomie.
2 Heute, nach Auslauf dieses Jahrhunderts (vgl. Mbl.28), schien er es wieder geworden zu sein. Im Kontrast zu den von der Wirtschaft getriebenen Einigungsbestrebungen in Europa wirkte der Bürgerkrieg in Bosnien ja besonders krass und führte daselbst schliesslich zum ersten Einnisten kampfbereiter islamistischer Araber.
3 zB. Friedrich Nietzsche, Rosa Luxemburg oder Oswald Spengler
4 Steiner erlebte tagtäglich die Welt der Dampfeisenbahn, der damals modernsten Fortbewegungstechnik, da sein Vater als Stationsvorsteher mit der Familie einen Bahnhof bewohnte (vgl. »TzN Jun.2004«).
5 vgl. TORBERG, F.: „Traktat über das Wiener Kaffeehaus” in «Die Tante Jolesch»
6 vgl. Mbl-B.6
7 Ebene der seelisch-geistigen Wirkungen - Realität (von lat. res, Sache) meint strenggenommen Tatsächlichkeit, nicht Wirklichkeit; dennoch kann von „geistigen Tatsachen” und „physischer Wirklichkeit” gesprochen werden, weil die Seinsebenen einander durchdringen und beeinflussen.
8 vgl. «Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...»
9 dem, was durch unser eigenes Wesen authentisch und damit neu in die Welt gebracht wird, Grundlage jeder „Innovation” und damit schärfster Gegensatz zu religiösen, politischen oder wirtschaftlichen Ideologien
10 vgl. M.Scaligero zum Annähern an Steiner
Literatur
STEINER, R.: «Mein Lebensgang»
LINDENBERG, CH.: «Rudolf Steiner - Eine Chronik»
OSTERRIEDER, M.: «Die Welt im Umbruch»
SCHMID, R.: «rudolf steiner»
WEHR, G.: «Rudolf Steiner»
W.G.VÖGELE: «Der andere Rudolf Steiner»
WIKIPEDIA: Rudolf Steiner
https://wfgw.diemorgengab.at/WfGWmbl01.htm