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Neudenken:
Verlassenheit und Heimkehr
Im I-Ging [a] folgt auf das Zeichen «Der Wanderer» das Zeichen «Das Sanfte». Der Kommentar, der beide Zeichen miteinander verbindet, sagt dazu: «Der Wanderer hat nichts, das ihn aufnehme, darum folgt darauf das Zeichen 'Das Sanfte, das Eindringliche'. Das Sanfte bedeutet Hineingehen.» «Der Sinn ist, daß der Wanderer nichts hat, da er in seiner Verlassenheit bleiben kann, und daß daher Sun [b] folgt, das Zeichen der Heimkehr.»
Die Verlassenheit des Wanderers, welche die unsere ist, führt zur Heimkehr, zur Heimkehr ins Sanfte, das hineingeht, in die Welt, in das Göttliche, in das Selbst, in uns selber. In der Heimkehr nimmt das wandernde Ich-Selbst des Menschen das Dasein an. Und in diesem Annehmen erfährt er die Welt als das Ausgegossensein des Schöpferischen, das als Einheitswirklichkeit sich als das anbietet, in das es heimzukehren gilt, obgleich man niemals aus ihm entlassen worden ist. Es ist die Rückkehr eines unverlorenen verlorenen Sohnes,[c] und die Rückkehr ist auch kein Zurück und keine «Kehr», keine Wende, sondern nur ein Sichbewußt-Werden seines Gehens und Heimgekehrtseins.
Wenn erst einmal der Irrtum durchschaut ist, es gäbe ein «falsches», ein «uneigentliches» Leben, und wenn das Dasein als Dasein des Göttlichen in der Begierde wie in der Askese, im Geben wie im Nehmen, in der Wolke ebenso wie im gestalteten Gedicht durchsichtig geworden ist, dann wird das In-der-Welt-Sein nicht nur zur Einsamkeit,[d] in welcher der Wanderer nichts hat, das ihn aufnähme, sondern auch zu einer Heimkehr in die niemals verlorene Geborgenheit. Hier fallen Verlorenheit und Geborgenheit in eins, denn wie wir als Ich verloren sind und verloren sein müssen, da wir kein personal göttliches Gegenüber als ein «Außen» erleben, so sind wir als Ich-Selbst geborgen, da wir aus der nächsten Nähe zum Göttlichen niemals heraustreten. Erst in diese Geborgenheit heimzukehren heißt, in dieser göttlichen Welt wirklich zu leben. In ihr zu leben aber ist dann auch identisch damit, unter den Fußsohlen zu spüren, daß unsere Wege ewige Wege sind.
Erich Neumann
aus «Eranos-Jahrbuch 1957»; S.52f
Unsere Anmerkungen
a] Das altchinesische «Buch der Wandlungen» ist ein Orakel-Kompendium, das von der Analytischen Psychologie C.G.Jungs für die Therapie wiederentdeckt worden ist.
b] vgl. den Languedoc-Beruhigungslaut soun (zB. in der von B.Streisand interpretierten "Brezairola")
c] Lk.15,11-32
d] vgl. «E+E»: Abs.458}
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn200811.htm