Die
zum IMPRESSUM
bietet hier eine poetische Studienhilfe an:
Eamsyne und Earasyn
VII
Von Erraten und Umarmen
421a} Du schenkst aus immervollen Händen
den Odem, der zu Ewigkeit gefriert
und dort, wo Mutterkräfte enden,
die aus der Zeit die Sphären wenden,(177)
sich immer wieder neu verliert.
421b} Du schenkst, was Leben immer neu gebiert,
erbrütet aus dem Sternensagen,
was erst als Stein die Erde ziert,
sich weiterpflanzt, sich dann vertiert
und endlich Mensch wird unter Plagen.
421c} Darf ich denn Dich zu lieben wagen,
ich kleines Sein, mit dem Du das besetzt,
was Du aus feurig ungebornen Tagen
Wort um Wort zusammen hast getragen,
dreifältig wirksam (58) auch vernetzt?
421d} Ein jedes sang auf seine Art zuletzt,
Dein Licht als Liebe rückzusenden;
die Weise tönt in vielen Stimmen hier und jetzt -
in einer fernen Zukunft wird in eine sie gesetzt
und weitet sich zum Chor in Deinen Händen.(178)
421e} Jeder noch so leise Ton
will dies schon.(179)
422} Ein Jahr nachdem sie Earasyn in jener eigentümlichen Wohnung begegnet war, verfasste Eamsyne diese Zeilen. Sie suchte nach einer zarten Möglichkeit, ihm ihr Gefühl mitzuteilen, dass ihr ein Funken in den Schoss gefallen war. Mochte er aus eigenem Fühlen erraten, was in ihr vorging! Direktes Aussprechen lag ihrem Wesen fern. Vielmehr suchte sie so oft wie möglich ein Aufblitzen im Seelenpanorama zu erreichen. Denn das beleuchtet viele Bilder, lässt in der Kürze jedoch offen, welches näher zu betrachten wäre.
423} Obwohl er ihre Art zu sprechen liebte, hatte Earasyn seine liebe Not damit. Nicht dass er zu einfach gestrickt gewesen wäre, im Gegenteil, er zog sich öfter auf sein Zimmer zurück, um nach Innen zu schauen und sich einen Weg durchs Gedankendickicht zu bahnen. Gerade deshalb neigte er zu klarer Ausdrucksweise. Manchmal war es mühsam, ihm zuzuhören, wenn er langwierig um Begriffe rang, dann wieder reiner Genuss. Auch pflegte er ein anderes Verhältnis zu den Sternen als seine Weggefährtin. Fast täglich studierte er seine Himmelskarte, schlug in Ephemeriden nach, notierte Rektaszensionen und Deklinationen, skizzierte Planetenstände und Aspekte und bemühte sich, das alles zu verstehen.(5) Wie gerne schaute sie ihm dabei über die Schulter, wenn sie zu Gast bei ihm war!
424} „Die Eins wird zu Zwei, die Zwei zu Drei.”(180) setzte Eamsyne hinzu, als er sie nach dem Vorlesen ihres Gedichtes erstaunt anblickte. „Und aus dem Dritten wird das Eine als Viertes”, murmelte er versonnen. „So weit sind wir noch lange nicht!” schmunzelte sie. Earasyn neigte seinen Kopf ob des krausen Diskurses und zog die Augenbrauen zusammen. In berührender Schönheit stand sie vor ihm und erwartete seine Antwort. Unruhig wie ein Widder, der seinen Grasplatz sichert, kaute er an den Blättern, die sie ihm zugeworfen hatte. Was verschloss sie, was eröffnete sie ihm? Wollte sie ihn necken oder zum Gespräch auffordern? Er schüttelte die Locken. Auf einmal hellte sich sein Blick auf. Er sprang über den Tisch, um sie fest zu umarmen.
425} Umarmen bedeutet so vieles. Die bergende Geste mag inniger Zärtlichkeit Ausdruck verleihen, dem Wunsch zu halten und zu schützen wie der Tierkreis die Planeten. Ebenso kann sie Unsicherheit verbergen, die Angst vor Verlust und im schlimmsten Fall sogar Gefangennahme. Sie mag als beglückend erlebt werden, als irdischer Aufschwung zu himmlischer Einung. Ebenso kann sie bedrücken, beengen bis hin zum Ersticken, Besiegelung einer Abhängigkeit. Wie oft kümmern die Bedürfnisse des Umarmten das Umarmende?
426} „Vorsicht, mein Ungestümer”, rief Eamsyne und lachte laut auf: „Was willst du mit zwei Toten?” Sie fühlte sich wirklich wohl in seinen Armen, doch einer Steingeiss gleich hielt sie die Freiheitsberaubung selten lange aus. Earasyn genoss die Freude, sie an sich zu pressen und dabei seine Kraft spüren zu lassen. In solchen Augenblicken stürmte das Leben durch seine Adern und zauberte ihm intensiv farbige Bilder vor die Seele, sodass er alles andere darüber vergessen konnte.
427} Endlich löste er sich von ihr und schaute sie an. Sie kam ihm unverändert vor in ihrer verhaltenen Lebendigkeit. Und doch war sie von einem Ton umgeben, den er bei seinen täglichen Besuchen bisher nicht bemerkt hatte. Er suchte in ihren vertrauten Augen nach einer Erklärung. Zwischen den langen Wimpern leuchtete ihm aus fernen Tiefen ein Fremdes fragend entgegen.
Vom Erdaugenlesen
428} Undenkbar lang ist es her, seit der Vulkan grollend unter sonneverfinsternden Giftwolken glühende Lavamassen ausgestossen hatte. Vor menschlichem Zeitmass war er über eine brodelnde Magmakammer hinweggedriftet, danach allmählich erloschen. Bäume, Sträucher und Gräser waren seine zerfurchten Hänge emporgewachsen und hatten ihn mit einem saftig grünen Kleid überzogen. Nur der Kraterrand war kahl geblieben. Graubraun umsäumte er eine Caldera, die sich mit Wasser gefüllt hatte. Ein windstiller See war entstanden, der sich wie ein schwarzes, ungetrübtes Auge dem Himmel öffnete.
429} Kein Mensch hatte es je gewagt, an den Flanken des schlafenden Riesen zu siedeln. Selten verirrte sich einmal ein Jäger heran. Wald und Matten waren vom schaffenden Zugriff unberührt geblieben, gewissermassen kulturlos. Eine reichhaltige Vielfalt von Pflanzen und Tieren hatte sich über die Jahrtausende gebildet, Untertanen einer Majestät, die so weit in die Erdentiefen reichte, dass sie durch nichts mehr aus der Ruhe gebracht werden mochte. Des Nachts spiegelte der Kratersee die leuchtenden Löcher am Firmament.(181)
430} „Von hier aus kann man sie bequem lesen”, sagt die Kuhäugige, nachdem sie fertig gekaut hat, warmes Gras nachgeschmeckt. Gern verweilt sie auf dem von Wind und Wetter abgerundeten Rand, um hinabzuschauen, besonders gern, wenn auch ihr engäugiger Freund sich wiedereinmal bequemt hat, heraufzukeuchen. Faul liegt er auf den alten Basalten. Sein borstiger Pelz schützt ihn vor manch immer noch scharfer Kante. Er blinzelt sie an: „Worauf warten wir hier?”
431} „Auf die Nacht”, erwidert sie sanft: „und darauf, dass die Lichter zu funkeln beginnen.” Dem grauen Gesellen ist das recht. Wenn er sich sattgefressen hat, kann man ihm allerhand zumuten, eine blassblaue Wölbung zum Beispiel mit breitem goldenem Streif am Horizont, der in feuriges Rot übergeht. Ein heller Stern strahlt über dem dämmernden Farbenwerk,(16) während die Landschaft im Schatten versinkt. Eine gute Weile verharren die beiden schweigend im vergehenden Licht. Nach einigen gedehnten Atemzügen wendet der Bär den schweren Schädel zur Spiegelfläche unter ihnen. Auch seine Freundin äugt in den gewaltigen Brunnen. Angespannt warten sie auf ein erstes Aufglimmen. Noch ist nichts im Schwarz zu erkennen, das matt zu ihnen heraufschimmert.
432} „Da!”, ruft sie: „Hast du's gesehen?” Eine gleissende Spur ist übers Wasser gezogen. „Ja”, gibt er gedehnt zurück: „ein sterbender Stern, eine herrlich grosse Schnuppe. Was für ein Feuerschweif! Sogar gespiegelt blendet der noch.” Er schliesst seine Lider, um das Nachbild abzutasten. Deutlich sieht er den flachen Flammenbogen mit dem glühendem Kopf vor sich. „Hast du dir etwas gewünscht?” grummelt er versonnen. „Es gibt hier nichts zu wünschen”, antwortet sie feierlich: „Es ist jemand gekommen.”
433} Neben ihr wird mit dem Kopf gewackelt: „Glaubst du?” „Das weiss ich!” beharrt sie. „Gut, gut! Und zu wem ist jemand gekommen, wenn man fragen darf?” - „Man darf, mein lieber Bruder. Zu ihr! Sie sind jetzt zu dritt.” - „Du meinst deine Tänzerin mit meinem Grübler?” - „Ich meine unsre beiden Menschen, wenn du nichts dagegen hast.” - „Die sind jetzt zu dritt? Das macht es auch nicht einfacher, Schwesterherz.” - „Wie bitte?” - „Ich meine nur ... ach du kennst mich ja. Es ist auch nicht wichtig, oh nein.” - „Nicht wichtig das Schwerwerden, bis die Frau das Kind unter Schmerzen ins Irdische entlässt? Erinnerst du dich denn nicht?” - „Oh doch! Nur wird die Bärin meinetwegen keinen Stern verloren haben.” - „Bist du sicher? Es gibt Sterne, die nicht gesehen werden können; dann weiss keines, ob sie fehlen.”
434} Über ihnen bleibt es still. Um diese Stunde fliegen die Adler nicht, sie wärmen ihre Jungen.
Von zwei Nachrichten
435} «Was freue ich mich, sehr geehrter Rabbi, Ihnen schreiben zu dürfen, dass die Hochzeit vollzogen worden ist! Unsere frischen Freunde werden Eltern, also älter. Haben dazu weder Staat, noch Kirche gebraucht. Ein Fehler? Anlässlich einer kleinen Feier, zu welcher die liebenswerte Dame ein paar Freunde zu sich eingeladen hatte, wurde das bekanntgegeben. Seit meiner Flucht habe ich mich nicht mehr so heimisch gefühlt! Nur Sie haben gefehlt, verehrter Schriftgelehrter! Ihre Abwesenheit ist ausführlich bedauert worden. Der junge Herr hat Sie immer wieder zitiert, besonders Ihre köstlichen Worte vom Heiraten.(182) Gelacht haben wir von Herzen, und sogar eine Kugel (132) ist aufgetischt worden, stellen Sie sich vor!
436} Auf meine Frage, ob die beiden nun zusammenziehen würden, hiess es, nein, sie fühle sich zuhause in ihren mittlerweile zwei Zimmern unterm Dach, und er finde, er solle die Wohnung jenes unsäglichen Bekannten, der bisher nicht wieder aufgetaucht ist, weiter hüten. Aber sie wollen die meiste Zeit gemeinsam verbringen, mehr bei ihr und mitunter auch bei ihm. Eine neue Form von Zusammenleben? Irgendwo steht „denn Trennung bringt Sein.”(183) Was weiss ich als allein Seiender! Man wird ja sehen, wie's kommt. Ausserdem bringen Kinder ihre ganz eigenen Bedürfnisse mit, wonach sich schon so manches Paar zu richten hatte.
437} Lassen Sie mich noch herzlich grüssen die gnädige Frau Rabbinerin, welche kennenzulernen ich immer noch nicht gewürdigt worden bin. Sie wissen, was ich meine. Bog vas čuvao!»
438} «TO Lama Löntschen/Gongkar/Tibet/China? STOP So far as so well STOP Hen waschalom (184) STOP Elieser».
Vom Innehalten
439} Halten wir doch einmal inne und lehnen uns zurück! Immer mehr Fäden wurden bis hierher verknüpft. Ein verwirrender Teppich breitet sich aus. Sogar wenn man die arg verzweigten Anmerkungen ausser Acht lässt, ermüdet das hermetische (0) Gehüpfe. Ist es nicht Zeit abzuschalten, aus dem Text auszusteigen, weil alles Interessante bereits gesagt worden ist? Worum handelt es sich überhaupt, um eine Märchensammlung, eine Selbstbetrachtung, ein psychologisches Tagebuch? Unklar bleibt sowieso, wohin diese irrationale (185) Geschichte führen soll. Wollen wir sie nicht besser auf sich beruhen lassen und uns Wichtigerem zuwenden? Wie wär's mit Geldverdienen?
440} Wem fiele es schon leicht, alle Sprünge mitzumachen? Mit der Ratio allein geht's wirklich nicht, das stimmt. Warum nicht ihr Gegenüber brauchen, die Emotion? Beim Zusammenwirken von Verstand und Gemüt, wenn die heissen Leidenschaften allmählich erlöschen, werden die Spielebenen möglicherweise bewusster.(186) Diese Wegbeschreibung lässt sich immerhin studieren. Mit etwas Empathie müsste sich dabei das Lebendige vom Seelischen halbwegs unterscheiden lassen. Übrigens, wurde nicht anfangs erklärt, es handle sich um eine fragmentarische Abhandlung, um eine Erzählung mit offenem Ausgang? Dann wär's wohl sinnlos, auf einen ordentlichen Schluss zu warten.
441} Vielleicht liegt der Gewinn einfach nur im Mitgehen?
Vom einfallenden Schrecken
442} Nicht kann Sirenengesang des Odysseus' Gehör mehr betören.(187)
Hiess er verstopfen mit Wachs auch die Ohren der wehrhaften Krieger,
liesse er selbst an den Mast jenes fliehenden Schiffes sich binden,
dennoch, Entsetzen erschütterte ihnen die bebenden Glieder.
Zögen sie kräftig auch einträchtig klatschende Ruder durchs Wasser,
setzten das Segel sie gar noch, wie wollten entgehn sie dem Heulen?
443} Grauenvolles Jaulen kündigte an, was nicht zu sehen war. Lautlos wurde die todbringende Last herangeflogen und so schnell, dass keine Zeit blieb zu fliehen. Aus ihrem geschäftigen Treiben in den Arkaden wurden die Menschen aufgescheucht, um von einem ausgeklügelten Blitz zermalmt zu werden.
444} Was eben noch fest gestanden, in den Himmel geragt hatte, fiel krachend in Trümmer. Kaum war der erste betäubende Knall verrollt, erhob sich das vielstimmige Schreien der Verzweifelten in den aufsteigenden Rauchwolken. Nachzündungen hier und dort lösten panische Angst aus. Manche rannten geradewegs in eines der brennenden Häuser zurück, andere sprangen von berstenden Dächern. Eine tonnenschwere Bombe war mit berechneter Gewalt gefallen, nicht die erste und keineswegs die letzte.
445} Russig verbrannten Gesichtes trat eine Frau aus dem flammenden Staub hervor. Ein paar blauschwarze Fetzen bedeckten ihre Blösse. Sie blickte in den Himmel. Nicht ein Flugzeug war zu sehen, kein Fauchen mehr zu hören. Hierauf senkte sie den Blick auf das Elend ringsum. Überall lagen Körperteile und Verstümmelte im blutigen Schutt, Nachbarn und Fremde, Käuferinnen von nebenan und Verkäufer, die aus den umliegenden Dörfern auf den Markt gekommen waren. Viele von ihnen schrien nicht mehr. Einer lag zu Füssen der Frau mit einem Buch auf dem Gesicht, als ob er des schwierigen Inhaltes wegen eingenickt wäre. Mühsam trugen sie ihre rot aufgerissenen Beine durch die Verwesung. Halb wahnsinnig vor Schmerz wiegte sie ein schlafendes Kind in ihren zitternden Armen, ein Kind ohne Kopf.(188)
446} In einiger Entfernung wurde geschossen. Junge Männer lachten vom Balkon eines stehengebliebenen Gebäudes. Kleine Feuerblitze züngelten aus den glaslosen Fenstern. Eine Rakete verliess zischend die Dächer und jagte zum Horizont. Dort setzten sich brüllend Maschinen in Bewegung, rollten los oder schraubten sich torkelnd empor, mitten darunter bewehrte Soldaten.
447} Krieg war ausgebrochen. Einst Vater aller Dinge genannt,(189) kam er in seinem ganzen Schrecken übers Land. Nicht gerecht schien er, schon gar nicht heilig, aber notwendig. Die fernsehgerecht einberufenen Konferenzen und glanzvollen Bankette, um ihn abzuwenden, waren ebenso vergeblich gewesen wie das übliche Besserwissen und Gutmeinen. Nichteinmal geheim geführte Verhandlungen konnte die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln (190) verhindern, denn einige wenige wollten den Krieg.
448} Wollten den Krieg, weil er rasche Veränderung versprach. Wiederholter Kampf, das Ritual starker Schwäche, dünkte sie das bewährteste Mittel, die eigenen Interessen zu befördern. Angriff, so meinten sie, sei die beste Verteidigung. Obendrein konnte unter künstlichem Donner, Geknatter und Geschrei so manch ein Übel vergessen gemacht werden. Dauernd gelte das Gesetz der mütterlichen Natur, kämpfend herausfinden zu lassen, wer der Schwache sei, der sich dem Starken zu beugen habe. Hat der Mensch dem wirklich nichts entgegenzusetzen? Zweifellos ist das Verändern sein Geschäft. Durchatmend greift er ins Werk (191), das um ihn ausgebreitet liegt; zerstört's, um es verwandelt aufzubauen. Wie nun die Späne fallen, wo gehobelt wird, das mag die Wachen interessieren. Heisst im Ganzen wohl, das Ringen so lang zu erleiden, bis wir's zum Frieden bändigen.
449} Dennoch, Entsetzen erschüttert uns allen, ob belebt, ob gefallen, die bebenden Glieder.
Von herbstlichen Stimmungen
450} Earasyn bemerkte, dass die Leute um ihn herum gegen Herbst von einer eigenartigen Unruhe befallen wurden. Die sommerliche Gelassenheit wich einem immer dichteren Tätigwerden und Vorbereiten. Dies fiel ihm umso mehr auf, als er selbst das Farbigwerden der Natur unter erblassendem Himmel mit stiller Freude erwartete. Gewiss, die gelöst aus den Ferien Heimkehrenden mussten sich wieder in ihr jeweiliges Umfeld einbinden. Aber war es deshalb nötig, sich in den Alltag zu zwängen wie in ein Gewand, das nicht mehr passt? Er fragte seine Gefährtin nach ihrem Erleben.
451} „Auch mein Körper wird in diesen Tagen schwerer”, antwortete Eamsyne leichthin und fügte mit einem Auflachen hinzu, heuer würde sie das besonders spüren. Ausserdem wäre der Herbst eben eine Zeit des Verdichtens, in der sich stets herausstellte, was reif genug geworden wäre und was nicht. Sich dem Schwächerwerden des Lichtes zu stellen, sei gar nicht so einfach. „Ich muss aus eigenem beleuchten, welche Ernte eingefahren werden kann.” stellte sie fest. Kein Wunder also, dass viele diese Herausforderung zu überspielen suchten.
452} „Ja, es braucht schon ein wenig Mut dazu”, meinte Earasyn: „irgendwo zwischen Übermut und Demut.” Doch könne man den Alltag nach den veränderten Bedingungen gestalten. Er atmete durch. Man könne die Lungen der feinwürzigeren Luft anpassen. Und überhaupt, wenn die Tage kürzer würden, käme dann nicht die Nacht umso eher auf mit ihren Sternen? Deren Wirksamkeit vermöge das Göttliche zu offenbaren.(192) Dann könnten wir versuchen, Ihm behutsam ein Gespräch anzubieten.
453} „Wer vermisst sich wie Gott zu sein?”(193) gab sie mit einem Heben ihrer zierlich gezogenen Brauen zurück.
454} „Immerhin sind wir Menschen sehr weit damit gekommen, das Leben auf dem Planeten zu beeinflussen, wenn nicht zu vernichten!”(194) beharrte er. Sogar den Begriff des Lebens hätte man verloren, dächte lediglich in biologischen Kategorien. Ob es da nicht ziemlich angebracht wäre, sich zu überlegen, wie ein Austausch mit der Grundlage der Schöpfung zustandegebracht werden könne? Ihn selbst zum Beispiel beschäftigte die Frage, was genau dem Aufbau eines gesunden Umfelds diene, wo dabei anzusetzen wäre und nach welchen Ordnungskriterien. Aus sich allein nämlich wäre der Mensch kaum fähig, eine passende Antwort zu finden.
455} Sie begann, aus einem Haufen getrockneter Wäsche rostrote Stücke zu ziehen und zu bügeln. „Trotzdem kommt ihm allein die Verantwortung für den Planeten zu”, seufzte sie.
Von der Beweglichkeit des Denkens
456} «So weit, schreibst du, so gut. Welchem Gegenstand käme Dauer zu, welcher Pflanze, welchem Tier, geschweige denn welchem erreichten Ziel? Fortwährend erfährt ein jedes subtile Veränderung. Stimmt mein Verehrungswürdiger meinem unbedeutenden Dafürhalten zu, das denkende Bewusstsein stets als ausgelöst von irgendeiner Spielart der Dinglichkeit zu erkennen? Dann gibt es so viele Bewusstseinsaugenblicke wie Zustände des veränderlichen Gegenstandes.(195) Wäre eine einzige feste Entität in der Welt der Phänomene vorhanden, auch nur ein Gedanke davon, das Bewusstsein würde daran haften wie die Fliege am Klebstreifen, daran surrend bis zum letzten Ton. So aber wird das Denken in einem fort genötigt, bienengleich zu summen. Begriffsblüten sind immer wieder loszulassen, damit deren Nektar verwandelt werden kann. Die wohligen oder auch schrecklichen Vorstellungswiesen müssen verlassen werden, wenn jener Ablauf Honig geben soll. Dies in rechter Weise zu tun, liegt in des Menschen Verantwortlichkeit. Ihr redet von Hölle, ihr redet von Himmel: Hölle ist Klebenbleiben in der Maja (196), Himmel ist Fliegen in der Wirklichkeit (197). Deine Schutzbefohlenen mögen wählen!»
457} Mit müder Hand schob der alte Schriftgelehrte die Kipa auf dem kahlen Hinterkopf zurecht. Endlich hatte er den Brief seines Freundes aus dessem schwierigen, tibetisch durchwachsenen Englisch übersetzt. An sich war Übersetzen, vornehmlich aus dem Hebräischen, eine seiner Hauptbeschäftigungen.(198) Die liebgewordene Gewohnheit veranlasste ihn jedesmal dazu, die feingewobenen Texte aus Indien ins Deutsche zu übertragen. Das sorgfältige Abwägen der Worte stimmte ihn nämlich gründlich auf die Botschaft des einsamen Wandermönchs ein.
458} Einsam? Er überlegte. Einsam nannte er den Zustand, da das Alleinsein überwunden war, was dann geschah, wenn der Mensch mit sich ins Reine kam, und am besten gelang dies auf der Wanderschaft. Der Rabbi nickte befriedigt. Alsdann holte er hörbar Luft und rief in die Stube hinüber: „Goldele! Der Lama, er hat geontwortet.”
459} „Na, was sagt er?” Die Rabbanith stand in der Tür zum kleinen Arbeitszimmer, ein Staubtuch in der einen, ein Buch in der anderen Hand. Er las ihr den Brief zweimal vor. „E Himalajared'”, liess sie sich vernehmen: „Er is e Zaddiq, dein Lama, kei Frag'. Aber werst de das den beiden übergeben wollen, Eli, grad so as Nadan?”(132) Ihr Gatte blickte sie nachdenklich an und schwieg.
Vom Stillwerden
460} Ein kühler Wind strich um die Ruinen der geschundenen Stadt am trüben Fluss. Die züngelnden Feuer waren erloschen. Die Staubschwaden hatten sich gelegt. Kein Rabe krächzte mehr, kein Schwan schrie.(199) Ringsum herrschte Totenstille.
461} Mächtig hob sich ein Gotteshaus gegen den Himmel. Das graue Gemäuer musste der entfesselten Wut widerstanden haben, obschon einige Einschläge von den heftigen Kämpfen zeugten, die es umtobt hatten. Wie ein Teil des hochgetürmten Gesteins stand die Frau am Portal und hielt ihr kopfloses Kind.(200) Alles an ihr schien verwandelt. Nicht Fetzen, ein Schleiergewand bedeckte ihre Locken und verhüllte in elegantem Schwung den schlanken Körper. Die bleichen Züge mit der gebrochenen Nase umleuchtete ein schmerzliches Lächeln. Aufrecht trug sie das Kind, stark und unnahbar wie eine Königin. Gleichwohl ging ein berührender Trost von dieser Gestalt aus.
462} Zu Füssen der Frau lagen zwei runde Mondsteine auf der Treppe, als ob sie beim Spielen verloren gegangen wären. Aus werweisswelcher Krone gebrochen hoben sie sich glänzend vom dunklen Boden ab und warteten darauf, von jubelnden Kindern gefunden zu werden. Doch nur eine liedlos trächtige Ratte huschte herbei, beschnüffelte die beiden Juwele und trollte sich wieder in ihr Schattenreich.
463} Die Wolken hatten sich verzogen. Schier endlos wölbte sich der Azur über dem irritierend ruhigen Bild. Einzig ein geflügelter Punkt kreiste lautlos darüberhin.(58)
Von Fülle und Leere
464} Wenn ein Kind sein Leben selbst regiert,
den Weg nimmt aus der Leere in die Fülle (59),
indem es weder geizt mit Dank, noch nach Geschenken giert,
was schützt es dann, damit's kein Stück, nicht Kraft verliert
von seiner dreifach angepassten Hülle?(201)
465} „Die Bilder sind so dicht! Was schützt unsre beiden wirklich vor dem, was sie übermag?” Mit ihren Kuhaugen blickt das anmutige Tier ihren behäbigen Begleiter eindringlich an. „Übermag! Du findest Worte!”, schnauft er aus hingebungsvollem Kratzen aufgescheucht zurück: „Mögen sie doch schauen, was sich so alles tut unter ihnen! Ihre Welt soll schliesslich nicht rosenfarben sein.” Die Schöne neigt den vorgestreckten Kopf: „Ob ihnen das bekommt?” „Na, sie sind doch gekommen, um die Leere zu füllen”, erwidert das Pelztier: „Das ist Menschenaufgabe.” Keineswegs beruhigt gibt sie zu Bedenken: „Die Frau ist jetzt anfälliger, mein Bruder. Der Mann sollte sich um sie kümmern!” „Aber das macht er ja, Schwesterherz”, brummt er träge: „Jetzt hat er zum Beispiel ihren Zettel gepackt und ist einkaufen gegangen und Post holen.” „Du bist ein Klotz!” stellt sie fest und unterdrückt ein Gähnen. Er richtet sich geräuschvoll auf: „Also wenn ich bitten darf ...” „Darfst du nicht”, zischt sie: „es geht weiter.”
466} Wenn ein Kind sein Leben selbst verneint,
den Weg nimmt aus der Fülle in die Leere,
indem es schlau das Leben und bequem zu meistern meint,
wer zieht es aus der Falle, wo kein Lichtstrahl widerscheint
vor lauter Willensballung hin zur Schwere?(202)
467} Die aufgestellten Ohren der Hirschkuh zucken. „Das wird einfach zuviel für die Frau”, murmelt sie. Neben ihr wackelt der unentbehrliche Gefährte mit seinem Fetthöcker. „Traust du deinem Menschen so wenig zu?” fragt er verwundert. „Es geht um zwei Menschen”, berichtigt sie, „eigentlich um drei, wenn du willst.” Der Bär schaut treuherzig zu ihr hinauf. „Ach ja, das sitzt bei mir noch nicht”, grummelt er in seinen Pelz, dann vernehmlich: „Aber auch für zwei, meinetwegen drei Menschen sollte klar sein, was sie erwartet, wenn sie sich in die Schwere begeben. Immerhin werden sie reicher davon.”(203) „Oder ärmer”, verharrt sie in ihrer Sorge: „Menschen verhalten sich so oft wie Unmündige.”(204) „Nu nu, sie werden ihren Mund schon noch gebrauchen”, grinst er gemütlich. „Jetzt”, schliesst sie, während ein Zittern durch ihren schlanken Körper läuft, „vertrage ich Witze schlecht!”
468} Des Kreisens müde, lässt sich der Flügelpunkt mit einem Schrei in den Abgrund fallen.
Von vergessenen Verpflichtungen
469} Das amtliche Schreiben in der Hand trat Earasyn zur Schwangeren, die es sich im Schaukelstuhl bequem gemacht hatte. Er reichte ihr den weissen Bogen, dem ein farbiges Wappen eingeprägt war. Aus der Bücherwand im Hintergrund grüsste eine leicht hölzelnde Stimme und nannte den Namen ihres Trägers, wonach sie anhob, sorgsam gefilterte Nachrichten aus aller Welt zu vermelden. Diesmal bestand die Welt aus den üblichen Sorgen des eigenen Landes, darunter ein schwerer Autobahnunfall bei Nebel, wozu der Minister für Meteorologie ausführlich Stellung nehmen durfte, dann in verwirrender Reihenfolge aus einem Grubenunglück irgendwo in China, koalitionärer Ratlosigkeit in Berlin, forschem Aufbegehren in Paris, Kleinkrieg rund um Kabul unter verhaltener Kritik Moskaus, Warnungen aus London, nicht ohne Verweis auf unklare Geheimdienstberichte, Terror, zur Abwechslung wiedereinmal in Galiläa, und dem, was die Börsen von alledem hielten, denn auf die kam es ja wohl an. Angenehm, dass vor den abschliessenden Wetteraussichten ausnahmsweise kein Wort über Washington, New York oder Los Angeles gesendet wurde.
470} Nachdem Eamsyne das ordentlich gestempelte Papier gelesen hatte, blickte sie zum werdenden Vater hoch, der wie ein begossener Pudel vor ihr stand. „Und”, fragte sie: „wirst du antreten?” Er begann ihr die Umstände zu erklären, wie es während seiner Dienstzeit bei den Fernmeldern (205) zur Meldung für internationale Einsätze gekommen war, er dies jedoch vergessen, da er bisher keine Aufforderung erhalten hätte, seine freiwillige Verpflichtung abzuleisten; dass diese ausgerechnet jetzt einträfe, käme ihm äußerst ungelegen. Selbstverständlich werde er versuchen, den Stellungsbefehl in Anbetracht ihres Zustands abzuweisen; sie könne das Kind doch nicht allein zur Welt bringen.
471} „Natürlich kann ich unser Kind auch allein auf diese Welt bringen”, erwiderte sie ruhig: „nur werd' ich vorher das Radio abschalten.”
472} „Komm”, sagte Earasyn nach kurzem Schweigen: „ich lad' dich ins Kaffeehaus (206) ein! Dort können wir das in neutraler Atmosphäre durchkauen.” Die Kaffeehaus-Stimmung sei eben nicht neutral, lächelte sie, ebensowenig wie dessen Luft, aber unvergleichlich im Verhältnis zu irgendeiner Bar. Ja, einem stilvollen Einspänner wäre sie nicht abgeneigt, mit zwei Stück Guglhupf bitte, eins für sie selbst und eins fürs Kind; auch sässe sie gerne auf einer der gemütlichen Bänke. Und werweiss, vielleicht träfen sie dort Herrn Z. an, was ihr heute besonders lieb wäre.
473} Er reichte ihr den Arm, um sie aus dem Schaukelstuhl zu ziehen. Die zarte Wölbung unter den vollen Brüsten löste seine zärtliche Aufmerksamkeit aus. Gerührt holte er die weinrote Jacke, die so hübsch zum Ocker ihrer Bluse und dem moosgrünen Beinkleid passte. Im Vorraum kniete er vor sie hin, um ihr in die Schuhe zu helfen; sie stützte sich ab, indem sie ihm die Linke auf den Kopf legte. „Gehn wir?” Hand in Hand verliessen sie das alte Wohnhaus, dessen schweres Eingangstor hinter ihnen satt ins Schloss schnappte.
474} Wie stets war das Kaffeehaus um diese Nachmittagsstunde mässig bevölkert. An einem Fenster, das die Sicht auf den sonnenbeschienenen Platz mit dem unaufhörlichen Kreisverkehr um den ebenso unaufhörlich plätschernden Brunnen freigab, fanden sie gleich den Tisch, den Eamsyne sich gewünscht hatte. Die Lederbank war abgeschabt, jedoch weich, die Travertinplatte auf dem gusseisernen Gestell frisch gewischt und der Raum noch nicht rauchgeschwängert. Bald dufteten Kaffee und heisse Schokolade vor ihnen; die Kuchenschnitten auf monogrammbesetzten Tellern luden zu langsamem Genuss ein. Konnten Sorge oder Trübsal denn davor bestehen bleiben?
475} Munter kauten die beiden Liebenden das süsse Backwerk, nippten an ihren warmen Schalen und vergassen zunächst auf den Grund ihres Hierseins. Eamsyne hatte als erste ihren Teller geleert. Sie lehnte sich zurück und sah ihrem Freund zu, auf den noch ein kleiner Rest Kuchen wartete. Diesen nahm er zu sich, kaute ihn gedankenverloren und spülte mit einem Schluck Wasser. „Also, was machen wir jetzt?” fragte sie ruhig.
476} Earasyn richtete sich auf und wischte sich den Mund. „Da gibt's noch etwas zu erzählen”, setzte er an: „Weisst du, Liebe, weisst du, mit wem ich beim Heer war?” „Du wirst es mir sagen”, antwortete sie gelassen, wiewohl eine leise Unruhe sie beschlich. „Mit Erwin.” Sie zuckte zusammen. Stockend fuhr er fort zu erklären, dass sie sich bei den Funkern kennengelernt, gemeinsam Kabel verlegt hätten, auf Maste geklettert wären und Antennen aufgebaut hätten, in Zelten Leitungen verschaltet, ja, sie seien hauptsächlich im Freien unterwegs gewesen, ohne viel dabei zu reden. Technisch wäre Erwin hervorragend gewesen, ein bewundernswertes As! Unter den Kameraden sei er aber Aussenseiter geblieben. „Eigentlich habe nur ich mit ihm gekonnt”, schloss er. „Dafür kannst du nichts.” Ihre Stimme war kaum zu hören. Beide hatten die Lider gesenkt. Wie auf Zuruf griffen sie nach ihren Schalen, um deren kaltgewordenen Flüssigkeitsrest auszutrinken.
477} Als Eamsyne wieder aufsah, war ihr Blick scharf: „Er hat sich wohl ebenfalls freiwillig für Auslandseinsätze gemeldet?” Earasyn nickte. „Irgendetwas fehlt mir da noch”, stellte sie fest. Er zögerte die Antwort hinaus. In seiner Not murmelnd brachte er vor, er hätte damals ja nichts von ihr gewusst, überhaupt nicht an ein Zusammenleben gedacht, schon gar nicht ans Kinderkriegen. Erwin und er, sie seien durch dick und dünn gerobbt, hätten am selben Strang gezogen, sich aufeinander verlassen. Und damals hätten sie sich versprochen, wenn der eine gerufen werde, gehe der andre mit. Er wich ihren geweiteten Pupillen aus, die den Abgrund zwischen ihnen offenbaren mochten. „Auch dafür kannst du nichts”, flüsterte sie bitter.
Vom Zusammenwirken
478} „Da sind sie schlussendlich!” Herr Z. stand an ihrem Tisch und vermeldete aufgeräumt: „Such' ich in Institut - niemand da. Geh' ich in Park - niemand da. Läut' ich an Wohnungstür - niemand da. Na schau' ich in Kaffeehaus, bitteschön.” Galant beugte er den kahlen Kopf über Eamsynes Hand und küsste sie. Das entlockte ihrem ernsten Gesicht ein liebenswürdiges Lächeln. Earasyn erhob sich höflich, um dem verehrten Philologen einen Stuhl zurechtzurücken. Der alte Kollege setzte sich, stöhnte behaglich und liess sich den unvermeidlichen Mokka bringen, ohne Sahne gottbewahr. Dann musterte er eingehend seine beiden jungen Freunde.
479} „Wieder Krieg”, brummte er nach einer Weile: „im Osten fern.” „Ja”, erwiderte die schwangere Frau: „wir sprachen gerade darüber.” „Und Sie sind voll Leben”, fuhr er freundlich fort: „Geht es gut?” Nun erzählte sie ihm ausführlich, was sie soeben erfahren hatte und dass sie noch im Unklaren wäre, wie sie mit dieser Belastung fertig werden solle, denn es sähe so aus, als werde sie ihr Kind allein zur Welt bringen müssen. Der selbst vielgeprüfte Professor hörte aufmerksam zu, blickte gelegentlich zum betroffenen Mann hinüber und nickte mit seinem schweren Kopf. Als sie mit ihrem Bericht zuende war, griff er in die Brusttasche und holte ein Kuvert hervor. „Post”, verkündete er: „von Freund Rabbiner!” Umständlich kramte er nach der Brille, setzte sie auf seine kantige Nase, raschelte das Schreiben aus dem zerknitterten Umschlag und fing endlich an, vorzulesen:
480} „Meine geliebten Freunde, die Zeiten ändern sich, das ist gut; wieder sterben viele Menschen gewaltsam vor ihrer Zeit, das ist schlecht. Niemandem unter uns rate ich heute, klebenzubleiben am Ersessenen und am Gewohnten. Was immer vorgestellt wird, es bleibt weniger bestehen denn je, was immer gewünscht wird, es fehlt die Überschau, um es wirklich wollen zu vermögen. Was soll ich euch sagen? Eine Frist hat der Erhabene fürs Umschlingen gesetzt und eine Frist, von Umschlingung sich fernzuhalten.(207) Euch obliegt es, herauszufinden, wann was von euch getan werden soll, wann was gelassen. Mit dieser Verantwortung steht ein jedes allein, das ist nicht gut, das ist nicht schlecht, das ist so. („Nije dobro, nije loše, to je tako”, wiederholte der Vorleser.)
481} Aber! Möglich ist es, dass wir einander im Herzensauge behalten, nicht nur voneinander wissen, sondern teilnehmen am Lebensgeschehen der oder des Anderen,(34) uns mitfreuen und auch -leiden mit den Wendungen der Schicksale. So werden unsere verschiedenen Lebensläufe nachundnach zusammengeführt. Dazu braucht es weder Zusammenwohnen, noch technische Vernetzung. Im Anfang nämlich hatte die Einheit der Elohim (12) in jeden der sieben Tage Urbilder eingeformt. Auf diese Weise ist die Schöpfung angefacht worden, und jenes Geschehen wirkt in ihr fort. Formen wir also jeden der eigenen Tage Gedanken voneinander! Das genügt. So wird, und das ist wichtig, unter uns Menschen zusammengewirkt. Das macht uns weise im Erkennen, macht uns stark im Ertragen, macht uns sicher im Entscheiden. In diesem Sinne segne nicht nur ich euch, meine notwendigerweise Gebeutelten, vielmehr segnet euch ein Gerechterer als ich!”
482} Herr Z. liess das Blatt sinken und blickte über den Brillenrand. Seine beiden Zuhörer hatten sich an der Hand gefasst. Zwei verstörte Augenpaare schauten ihn an. Etwas verloren kamen sie ihm vor, einigermassen zwischen den Welten. Solche Augen hatte er häufig gesehen in der zerschossenen bergigen Heimat, aus der er vor mehr als einem dutzend Jahren geflüchtet war. Er fuhr sich mit der Linken übers gefurchte Gesicht. „Das heisst”, sagte er belegten Gaumens: „Sie werden Ihren Aufgaben nicht ausweichen sollen. Deretwegen sind Sie und Sie hier, Frau und Mann, sind wir alle hier, ist sogar dieser Lama hier. Handkehrum schön, wenn wir uns die jeweiligen Umstände mitteilen mitunter!”
483} Allmählich fand sich das Fünfuhrpublikum ein. Der Geruchs- und der Schallpegel, unabdingbare Reize eines jeden Kaffeehauses, stieg merklich an. Jacken und Mäntel wurden ausgezogen, manch ein Parfum dabei verbreitet, verschieden starke Zigaretten angezündet und allerlei zurechtgerückt, um dem Wohlbefinden Vorschub zu leisten. In der Ecke beim Ausgang reinigte ein Bärtiger gründlich seine Pfeife, bevor er sie in verschieden dichten Schichten stopfte, um danach das brennende Zündholz über dem duftenden Tabak zu geniessen. Vielerlei Stimmen riefen durcheinander nach einem der sechs befrackten Ober, nach einer Karte, Zeitung, nach Getränken, Kuchen und Torten, mit einem Wort, man suchte geräuschvoll nach Befriedigung eigens mitgebrachter Bedürfnisse.
484} Die aufkommende Unruhe brandete an den Nichtrauchertisch, an welchem vor leeren Schalen geschwiegen wurde. Gischtartig spritzten einzelne Wortkaskaden in die Ohren der ihren Gedanken nachhängenden Freunde. Sprachtropfen, die sie waren, lösten sie Gedankenfetzen ab, welche sich verwirrend zu den inneren Bildern gesellten und diese ins Absurde veränderten. Was hatte eine Portion Maroninudeln mit Kabelverlegen gemein, die Fernsehillustrierte mit dem Geborenwerden, ein Schale Gold mit dem Stillen? Kaum lässt der Mensch nach im Bemühen, selbst zu denken, denkt es in ihm herum, irrlichterlierend. Eamsyne war es schliesslich, die den zuständigen Kellner herbeiwinkte, um zu zahlen. Herr Z. hingegen bestellte einen Cognac; er wollte sich noch eine Weile unterhalten.
Vom Ende eines Weges
485} Die Stadt wirkte wie ausgestorben. Kein Wagen rauschte über den rauhen Asphalt. Keine Strassenbahn bog quietschend um die Ecke oder verlangte mit ungeduldigem Bimbim nach freien Schienen. Das Blinken der Ampeln war abgeschaltet. Weissgemalte Fahrbahnmarkierungen und Zebrastreifen glänzten vor regelkonformer Sinnlosigkeit ob des mangelnden Verkehrs. Ein Rundschild auf verbogener Stange verlangte stur nach Begrenzung nichterzeugter Geschwindigkeiten. Weiter vorne Richtung Osten stand halb auf dem Gehsteig ein Bus mit offenen Türen, Einladung zu flotter Fahrt, freilich ins Nirgendwo,(208) denn beim Näherschreiten waren seine platten Reifen und die geborstene Windschutzscheibe gut zu erkennen. Die Flächenfenster der Auslagen boten weder einen Blick auf ausgelegte Güter, noch spiegelten sie irgendwelche Ereignisse aus der Welt des Transportes. Und weder auf den Plätzen, noch in den Strassen zeigte sich jemand, von alldem Notiz zu nehmen. Kleine Luftwirbel rissen Blätter und leichten Unrat zu flüchtig belebtem Reigen hoch, um sie bald darauf irgendwo abzulegen, während die einbrechende Dämmerung die Szene in ein fahles Licht zu tauchen trachtete.
486} Die Schwangere fragte sich, wo der grobkörnige Staub herkam, der ihr um die Ohren fegte, sich in Haare, Nase und Nacken drängte. Auch wunderte sie sich, dass die Laternen nicht aufglühten, da doch die Helligkeit zunehmend schwand. War denn wirklich niemand unterwegs, der Licht benötigte? Dabei kam es ihr nicht in den Sinn, dass sie selbst diejenige sein könnte, die Licht suchte. Sie stolperte über ein Brett, das quer überm Weg lag und mit rostigen Nägeln ihre Sohlen bedrohte. Aufmerksam geworden, konnte sie gerade noch vermeiden, in einen sauerfauligen Kothaufen zu tappen.
487} Bei ihrer Ausweichbewegung geriet sie in die Nähe einer Toreinfahrt, aus deren Schatten ein Paar bleicher Füsse hervorstach. Sie blieb stehen. Auf dem Bordstein kauerte eine in schwarze Tücher gehüllte Gestalt im graublauen Staub, der sich dort anzusammeln schien. Auf dem Schoss hielt jene ein regloses Lumpenbündel. Ein ferner Klageton war zu hören. Ohne aufzublicken wiegte die Hockende das in Fetzen Gehüllte unter dünnem Wimmern sacht in einen undurchdringlichen Schlummer. Ganz eingenommen war sie von ihrem kaum merklichen Tun, versponnen in ihre Nöte oder Träume, unansprechbar von der Wirklichkeit. Eine Wahnsinnige, Elende, Randgeratene?
488} Die Beobachterin griff unwillkürlich an ihren Bauch, um das Leben darin zu spüren. Sie fühlte sich überflüssig. Was mochte hier helfen? Stören wollte sie nicht, also setzte sie ihren Weg fort. Es begann, finster zu werden, und sie beschleunigte ihren Gang; Verkehrsbeschränkungen kümmerten sie nicht weiter. Bald darauf erkannte sie ihre Gasse. Der Baum ragte knöchern in die Nebelschwaden über dem kleinen Platz; sein prächtiges Kleid hatte er bereits abgeworfen. Um seinen königlichen Stamm herum bildete das Laub einen vielschichtigen Flor (209), den sie raschelnd überqueren musste, wenn sie zum Haustor gelangen wollte.
489} Da der Aufzug wiedereinmal blockiert war, nahm sie die Steintreppe. Zügig stieg sie Stufe um Stufe, musste jedoch in jedem Stockwerk innehalten, um ihren Atem zu beruhigen. Hörte die Windung des Stiegenhauses heute Abend gar nicht mehr auf? Endlich gab es nichts mehr zu ersteigen. Über den Flur erreichte sie die vertraute Eingangstür. Ein Schlüsselklirren, dann stand sie in der kleinen Wohnung. Erleichtert sperrte sie hinter sich zu. Wie gewohnt verzichtete sie darauf, das Licht einzuschalten. Sie legte den Mantel ab, zog sich die engen Schuhe aus und betrat ihr Zimmer. Der weiche Teppich lud zu ein paar hingetanzten Schritten ein. Die führten sie zum Dachfenster. Sie legte den Messinghebel um und öffnete schwungvoll die Doppelglasklappe. Ein Hauch frischer Luft umfing sie.
490} E quindi uscimmo a riveder le stelle.(210)
https://wfgw.diemorgengab.at/eameara07.htm