zum IMPRESSUM

TEXT
ZUM
NACHDENKEN:

Die Angst des Wissenschaftlers vor der Imagination

 

Als ich vor einigen Jahren im Großen Saal des Goetheanum in einem Mysteriendrama [a] saß, begann, bevor sich der Vorhang öffnete, in einiger Entfernung von mir ein Wecker elektronisch erzeugte Pieptöne von sich zu geben. Erschrockenes Rascheln des Besitzers oder der Besitzerin, bis das Piepen verstummte. Die Szene auf der Bühne begann. Nach einigen Minuten erscholl allerdings das gleiche Piepen erneut. Wiederholtes Rascheln, diesmal mit mehr Erfolg. Das Piepen war endgültig verstummt. Um mich eine Atmosphäre von ärgerlichem Schweigen. [...]

Märchenhaft

Beim zweiten Piepen hatte ich jedoch den mich überraschenden Eindruck: "Warum hört mich denn keiner?" Ich ließ mich also auf ein Gespräch ein, indem ich meinen Arm bereithielt, als kleine Bank zu dienen, und prompt setzte sich ein Männlein [b] darauf und sah mich mit großen Augen an. Ich begann ihm zu erklären: "Das ist jetzt nicht der richtige Moment!" Verdutzt hörte der Kleine zu, und - seine Aufmerksamkeit ausnutzend - erklärte ich ihm: "Wir Menschen sehen hier ein wichtiges Schauspiel an. Da geht es darum , wie Menschen lernen können, daß sie deine Welt auch sehen." Das Männlein zwinkerte dankbar mit den Augen - und schwupp, war es von meinem Arm verschwunden.

Wissenschaftlich

Diese kleine Geschichte [...] ist nur eine imaginative Erzählung. Nicht, daß es das Männlein nicht gäbe, auch saß es natürlich auf meinem Arm, aber es hatte kein Gewicht und war ganz und gar unsichtbar. Für eine märchenhafte Darstellung ist obige Beschreibung wohl ganz hinreichend, aber für den wissenschaftlichen Verstand sehr unklar, weil nicht deutlich ist, welchen Realitätsgrad das Männein eigentlich hat. Deshalb sei die ganze Situation nochmals bewußt analysiert.

Nach dem zweiten Piepen hatte ich also einen Eindruck, den ich - in Worte gefaßt - so wiedergeben würde: "Hallo! Warum hört mich keiner." Aber die Worte sind nur der sprachliche Ausdruck, um mich dem Leser mitzuteilen; in Wirklichkeit waren keine Worte zu hören. Entsprechend könnte ich die Stimmung auch ganz anders beschreiben, etwa indem ich sie in eine auf sich aufmerksammachende Geste übertrage: "Jemand schwenkt ein rotes Fähnlein." Der Eindruck selbst war für mich überraschend. [...] Ich habe mir dann aber versuchsweise vorgestellt, es säße der "kleine Störenfried" auf meinem Arm. Natürlich war da nichts zu sehen gewesen. Weiter habe ich mir vorgestellt, was ich ihm gesagt hätte, wenn er da wirklich gesessen hätte. Dies erzählte ich ihm dann auch, indem ich innerlich mit ihm sprach, so wie man sonst sich selbst Gedanken erzählt, wenn man etwas gedanklich zu bewältigen sucht. Seine Größe entsprach der Bedeutung des Geschehens. Er war (für mich) klein, weil ich die Episode selbst als nebensächlich einstufte, und weil sein Verhalten mir keinen gewaltigen, sondern eher einen lausbubenhaften Eindruck machte.[c] Ob er mir seinerseits etwas erzählt hätte, kann ich nicht sagen, weil ich dieses gar nicht zuließ.

Die Quelle der dabei entstandenen Stimmungen - zunächst der Aufmerksamkeit und dann der Dankbarkeit - sind jedoch schwieriger zu lokalisieren, da ich ja selbst ein Interesse daran gehabt habe, daß mein "kleiner Zuhörer" auch aufmerksam zuhört und sich anschließend bedankt. Diese Erwartungen können selbst zu Quellen der Einbildung werden: Ich "sehe", was ich erwarte (Projektion).[d] Das gilt eben auch umgekehrt: Was ich nicht erwarte (daß auch er etwas zu sagen hätte), lasse ich nicht zu. Die gebildeten Vorstellungen sind hier Hilfsmittel, um die entstandenen Stimmungen oder Eindrücke zu differenzieren und zu entwickeln. Sie sind in ihrer Form ähnlich subjektiv wie Traumbilder, sind also nicht wörtlich zu nehmen, sondern wollen gelesen werden, um auf den dahinterliegenden Sinn zu verweisen. Mit zunehmender Übung wird der Einfluß der Stimmung auf die Bilder größer: Sie drücken immer mehr die Stimmung aus und immer weniger meine Willkür.

Gefühl für die Wahrheit

An dieser Stelle wird deutlich, daß es eine feine innere Wahrnehmung erfordert, um zwischen Projektion und Eindruck zu unterscheiden. Hier setzt denn auch die Kritik des Wissenschaftlers an, der schnell bereit ist zu zweifeln, ob diese notwendige Unterscheidung überhaupt geleistet werden kann. Zumindest für sich selbst wird er meist in Frage stellen, ob auf diese Weise etwas Wirkliches zustande kommen könne. Allerdings verwehrt ihm dieses Vorurteil, überhaupt je eine andere Erfahrung zu machen. Nun wäre er aber gerade aufgrund seiner erkenntniskritischen Haltung geeignet, an dieser Stelle seriöse Untersuchungen zu machen und nicht auf Projektionen hereinzufallen. Leider verhindert jedoch die gängige wissenschaftliche Ausbildung gerade diese Feinfühligkeit, da wissenschaftliche Beweise gewöhnlich äußere Beweise sind, das heißt dieses innere Wahrheitserleben nicht selbst zum Thema erheben, sondern mit Beweisketten neue Erfahrungen auf alte zurückführen. Daß diese Beweisketten selbst auf diesem Wahrheitsgefühl (Evidenz) beruhen, wird dabei deshalb übersehen, weil das Evidenzerlebnis meist durch Logik [e] ersetzt wird.

Evidenz-Übung

Um auf diesem Feld mehr Sicherheit zu gewinnen, kann eine kleine Übung helfen: Eine Primzahl ist eine Zahl, die nur durch sich selbst und durch 1 teilbar ist. Man kann sich nun klar machen, daß 2 die einzige gerade Primzahl ist, weil "gerade" heißt: die Zahl ist durch 2 teilbar. 4 ist also keine Primzahl. Nun kann man versuchen, 4 mit der gleichen Überzeugung als Primzahl zu denken und zu beobachten, wie das Denkerlebnis verschieden ist: Es ist von der sicheren Einsicht begleitet, es stimmt nicht, es ist willkürlich. Man macht also parallel zwei Erfahrungen: Man weiß (erste Erfahrung), daß es nicht stimmt (zweite Erfahrung). Den gleichen Erfahrungsunterschied kann man aufsuchen, wenn man den Unterschied zwischen einem gesehenen Löffel und einem vorgestellten Löffel untersucht. Wer mit diesen Unterschieden in innerer Unbefangenheit umgehen kann, der findet auch das Kriterium zwischen Eindruck und Einbildung zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist schwierig, aber möglich.

Ob man überhaupt Eindrücke hat, ist sicher auch eine Frage der Begabung. Aber Sensibilität läßt sich durch Übungen auch Schulen. Allerdings werden die meisten Eindrücke durch Vorurteile verdeckt, so daß sie gar nicht die rechte Würdigung erfahren. Diese Vorurteile werden durch die oben beschriebene Unsicherheit gestärkt: "Es ist doch alles bloß Einbildung."

Imagination: Wesensbekleidung

Aus dem Beschriebenen kann deutlich werden: Bei diesem Ansatz steht am Anfang der Eindruck (Inspiration)[f], den ich mir mit Hilfe der Bildgeschichte (Imagination)[f] zum Bewußtsein bringe. Meine Bilderfähigkeit dient mir, um meinen Eindruck zu differenzieren. Man könnte auch sagen, ich benutze Bilder, um die sich mir nähernden Wesen zu bekleiden - und merke erstaunlicherweise, ob und inwiefern diese Kleider den Wesen "stehen" oder ob ich sie unvorteilhaft angezogen habe. Im Sinne einer "exakten Phantasie" Goethes ist die Seele aufgerufen, den sich ergebenden Eindruck in ein möglichst passendes Bild zu prägen und damit den Eindruck zu beleuchten. Rudolf Steiner schildert ein solches Vorgehen in seiner Interpretation der «Chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreutz».[g]

Geisteswissenschaft und Psychiatrie

Die Verständigung über den Sinn, der Bildern zugrundeliegt, ist eine Grundlage einer Geisteswissenschaft, die sich an die Stufe des Studiums anschließt. Daß Wissenschaftler sie kaum betreten, liegt weniger daran, daß die Erfahrungen bei ihnen nicht auftreten, sondern hauptsächlich daran, daß diese Erfahrungen eher unauffällig und im Hintergrund der Seele stattfinden und damit nicht durch den Filter der gewohnten "Erkenntnisgrammatik" hindurchkommen. Die Seele findet sich oft in einem Widerspruch: Einerseits sehnt sie sich nach "übersinnlicher Erfahrung", andererseits verfügt sie über wirksame Abwehrmechanismen, um sich vor der Innigkeit und Verbindlichkeit gerade dieser Erfahrungen zu schützen. Dieser Schutz ist oft wohl ganz berechtigt, weil die Seele über genügend psychische Stabilität verfügen muß, um die eigene Integrität nicht zu verlieren. Mit anderen Worten: Ohne den Hüter der Schwelle, der die Seele am unvorbereiteten Eintreten in geistige Erfahrungen hindert, wäre die Seele gefährdet, mit Vorgängen und Wesen der geistigen Welt so zusammenzufließen, daß sie, anstatt ihre Eigenheit zu verfeinern, sich fremden Einflüssen überläßt und so in eine Abhängigkeit gerät, die schließlich sogar psychiatrisch behandelt werden muß.

Offene Fragen

Ich habe hier eine Art geschildert, mit Bildern produktiv umzugehen. Dabei wird deutlich, daß die Bilder selbst keine "Photos" sind, die die Realität eins zu eins darstellen, sondern eben Bilder, "Bildungen", die nur Ausdruck von Sinn sein wollen, die gelesen werden wollen. Wer untersucht, ob das Männlein nun eine Zipfelmütze auf dem Kopf hat und ob diese Zipfelmütze an ihrem spitzen Ende durch einen Bommel abgeschlossen ist, der gleicht dem Kalligraphen, der die Serifen einer Schrift untersucht, anstatt sie zu lesen. Man muß über den Schrifttyp hinwegsehen, um den Sinn der Schrift zu entziffern.

Neben dieser Art, den Sinn in das Bild zu projizieren, gibt es auch noch andere Arten mit Bildern umzugehen. [...] Ich möchte hier nun die Frage stellen, ob es eine allgemeinverbindliche, eindeutig gestaltete Bilderwelt gibt, in der ein bestimmter Eindruck von allen entsprechend geschulten Beobachtern gleich gesehen wird, wie wir das für die Sinneswelt gewohnt sind? [...] Für die Beantwortung wäre wichtig, in welcher Bewußtseinsverfassung die Bilder auftreten, das heißt, wie ist mein Verhältnis zur Sinneswelt während der Schau? Treten sie wie Vorstellungen oder Erinnerungen auf? Wie weit bin ich beim Zustandekommen der Bilder selbst beteiligt? Wer liefert das Material für die Bilder?

Andreas Heertsch
aus »Das Goetheanum« Nr.37/2003; S.10f

Unsere Anmerkungen

a] Rudolf Steiners vier von 1910 bis 1913 verfasste «Mysteriendramen» werden auch heute noch am Goetheanum in Dornach und anderenorts aufgeführt.
b] vgl. den Telesphoros bei C.G.JUNG in «Erinnerungen, Träume, Gedanken»
c] vgl. antike Darstellungen, wo die Grösse des Dargestellten dessen Bedeutung wiedergibt
d] auch im Sozialen eine gefährliche Irrtumsquelle
e] gemeint ist die aristotelische Entweder-oder-Logik
f] Imagination, Inspiration und Intuition sind an sich Fachbegriffe für die drei Erkenntnisstufen in die geistige Welt.
g] in «GA 35»

red.14.X.2003
WfGW, 1030 Wien / AT