Die
zum IMPRESSUM
bietet hier eine poetische Studienhilfe an:
Eamsyne und Earasyn
XI
Vom Warten
701} Die Rabbanith zeigte sich beunruhigt. Seit Stunden sass ihr Eli im alten Lehnstuhl vor dem mit Papier- und Bücherstapeln belegten Tisch, ohne ein Wort zu sprechen. Zwar kam es oft vor, dass er gerade bei ihr seine schweigsame Seite auslebte. Sie war gewohnt, in geschäftiger Gelassenheit abzuwarten, bis er aus irgendeinem Winkel seiner weitverzweigten Innenwelt wieder auftauchte, um sich Äusserem zu widmen, zum Beispiel der leidigen Frage nach dem Haushaltsgeld, die sie übrigens selten genug zu stellen meinte. Während solcher Schweigephasen pflegte er hinundwieder etwas zu murmeln oder sie wenigstens auf eine bestimmte Weise anzublicken, die sie ahnen liess, was ihn bewegte, wo er sich befand. Heute jedoch stierte er totenstill in gottweisswelche Fernen, ohne Kuchen oder auch nur Brot, Tee oder auch nur Wasser zu sich zu nehmen.
702} Bekümmert sah sie, wie bleich er war. Gerne hätte sie ihrem Angetrauten zärtlich über den Kopf gestrichen, diesen an ihre Brust gedrückt, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie für ihn da war. Hatte sie auf dem Markt nicht zwei köstlich koschere Dagim (291) erstanden, die nur darauf warteten, in gut gesalzener Brühe gekocht zu werden, wonach sie vielleicht mit jungen Kartoffeln und ihrer, der Rabbanith in aller Bescheidenheit, berühmten Kapernbéchamelsosse auf der goldberänderten Porzellanplatte angerichtet in festliche Erscheinung treten könnten? „Dazu werd sech scho e Fläschele finden lassen”,(132) dachte sie, etwa ein gut gekühlter Sauvignon in jenen dünnen, zartgrünen Gläsern, die sie von ihrer Grossmutter geerbt hatte. Allein sie wagte nicht, ihn durch eine entsprechende Anfrage zu stören.
703} Die Frau strich sich eine graublonde Strähne aus dem Gesicht und seufzte. Was war ihr Mann für ein Mensch! Sie liebte und bewunderte ihn, aber leicht war es nicht, mit ihm durch den Alltag zu segeln. Segeln? Rudern wäre wohl besser gesagt, und oft genug gegen den Strom! Dabei waren sie alt und die Kinder erwachsen geworden. Der Sohn war nach Amerika gezogen, nicht jedoch wie erwartet zum Onkel nach Brooklyn, sondern nach Sonoma, wo er irgendwelchen unbegreiflichen Geschäften nachging, Geschäften in Sachen künstlicher Wirklichkeit. Virtuelle Welt nannte er das in seinen spärlichen Briefen. Virtuell! Was soll das - redet man so mit seiner Mame? Die Tochter hingegen, sie hatte einen schnauzbärtigen Feschak von Südfranzosen geheiratet, war selbst bereits glückliche Mutter und lebte mit ihren Bubelim, wie sie zu sagen pflegte, bei Albi (292) am altehrwürdigen Tarn. Streckenweise könne man diesen Fluss mit «canots» befahren, die einen zu lauschigen Angelplätzen trügen, hatte sie erzählt; flussaufwärts schäumte die «cascade» und gut hundert Kilometer weiter spannte sich jene neue Brücke, die einzigartig den Gegensatz von einst und jetzt erleben liesse.(293) „Ach, wie scheen wär' ei' Besuch bei de Enkele!”
704} Da sass ihr Eli an seinem unordentlichen Schreibtisch und träumte tag! Des Reisens müde, war er kaum noch fortzubewegen. Nach Amerika würde er nicht mitfliegen, das war gewiss. Zwölf Stunden in einem Zylinder eingepfercht zu hocken, links ein rotes Blinken, rechts ein grünes, das war ihm seit Kaschi nicht mehr zuzumuten. Ob sie ihn aber dazu überreden könnte, seine geliebte Tochter zu besuchen? Mit diesen rasenden Eisenbahngarnituren heutzutage wäre das möglicherweise in Betracht zu ziehen, werweiss. Warten musste sie eben, bis er sich wieder zu ihr bequemte. Und warten gelang ihr am besten, wenn sie etwas zu tun fand. Die Rabbanith begab sich in die Küche.
705} Begab sich in die Küche und holte das Paket hervor, das sie vom Markt in die Wohnung geschleppt hatte. Sie befreite die silbrig blauen Körper aus dem Papier und legte sie aufs Brett. Frisch sahen sie aus und würden ausgezeichnet schmecken! Den grossen Topf her, die Zwiebeln, das Salz, die Gewürze! Sie entzündete den Gasherd und stellte das gefüllte Gefäss auf die blauen Flammen, welche alsogleich fauchend damit begannen, dem Wasser ihre Hitze mitzuteilen. Das Geräusch war ihr lieb, und sie horchte kurz hin. Dann wollte sie die Fische packen, um sie vorzubereiten, und merkte, dass deren dunkle Augen sie unverwandt anblickten.
706} „No, wos hobt ehr mech zum sogen?” fragte sie gutmütig. Als Antwort erhielt sie ein stummes Hauchen. Die Welt wäre ihnen zu grob geworden, weshalb sie sich aus den Wellen begeben hätten; doch gäbe es Hoffnung auf Besserung, nur müsse nocheinmal kräftig geschwommen werden, unter den Brücken hin zur reinigenden Kaskade und hindurch zu den Ruheplätzen jenseits der Stadt, wo die Menschen vergassen, wer sie gewesen seien; sie selbst könnten warten, denn am Fluss liege es nicht, nicht am Meer, am Gewölk und auch nicht am Regen.(272)
707} Verwundert hob die erfahrene Köchin den Kopf. Das Wasser auf dem Herdrost begann zu singen; noch hatte sie nichts hineingetan. Mitten im Überlegen zuckte sie zusammen. Neben ihr stand der Rabbi. Ein Schmunzeln huschte über seine Sorgenfalten.
Von Form, Materie und Leben
708} Einen Laib Brot,(294) etwas Käse, ein paar Äpfel - mehr hatte Eamsyne nicht eingekauft. Die übrigen Marktstände hatten sie kaum gelockt, die Fischbuden schon gar nicht. Ihr war heute nicht nach Kochen zumute. Vielmehr wollte sie sich in den kommenden Tagen ganz ihrer Diplomarbeit widmen. Die Vorarbeiten hatte sie bereits abgeschlossen, nun ging es darum, das Material in eine ansprechende Form zu bringen.
709} Form wäre geronnene Bewegung,(295) fiel ihr ein, als sie den Weichkäse auswickelte; fast zum Stillstand gekommene Bewegung, sozusagen dazu angehalten, auf ihrem Platz zu tanzen. Aus heissem Chaos herausgetropft, trüge sie, als solche unsichtbar, zu vorübergehender Ordnung bei, sagen wir: zu Strukturen, in denen sich Gedankennetze bilden, Gefühlswogen halten und Willensimpulse bis ins Materielle verdichten konnten. Voraussetzung aller Physik, wäre Form an sich bereits metaphysisch.
710} Nachdenklich schnitt sie sich eine Scheibe vom Laib. Ob festgefügt oder flüchtig, Materie bestünde letztlich, aller sinnlichen Wahrnehmbarkeit zum Trotz, aus enggepackten, zitternden Drehimpulsen, die sich in strenger Gesetzmässigkeit aufeinander bezogen und je nach Zusammenspiel zum Beispiel Gold oder Kohle (249) zu stofflicher Erscheinung brächten. So betrachtet wäre Materie wirklich die grosse Illusion,(196) als die sie von den Indern angesehen wurde. Warum aber dann das Wort Materie?(177) Konnte Mütterliches denn trügerisch sein?
711} Eamsyne legte die Hände auf die Bauchdecke. Beidseitig fuhr sie über die Wölbung und spürte das Strampeln darin. Ein neu sich formender Organismus wuchs in ihrem Bauch, indem er Stoff aufnahm, Stoff abgab.(220) In mütterlicher Geborgenheit durfte er heranreifen. Nichts trog ihn, weder ihr eigener Stoffwechsel, noch ihr Atem, ja er setzte ihr rhythmisches Dasein auf der Erde voraus. Er nahm zu und wurde schwer. Sie liebte dieses Schwerwerden, wenngleich es sie belastete. Materieklumpen? Formgestalt? Das, was sie liebte, war die lebenswarme Gebärde.
712} Also Leben. Darum ging es eigentlich. Die Form diente der Entfaltung des Lebens, das aus der Fülle (59) möglicher Gestaltung die jeweils passende wählte, von der Zelle übers Organ zum zusammenwirkenden Ganzen. Die Materie stützte dieses Geschehen, wie fester Boden die Pflanze trägt, die sich ihm entringt, um in feingegliederten Schwüngen hochzuwachsen, von den Sternen geleitet dem Himmel zu. Und aus denselben Sternen bildete sich in ihr ein lebendig beseeltes Wesen heran, ein Mensch! Lächelnd nahm sie einen Apfel und biss ins glänzende Rot.
713} Im Kauen überlegte sie, woher sie selbst die Kraft nahm, Materie umzuwandeln, aus fremdem Stoff immer wieder eigenen zu schaffen. Seit sie von Mutter fortgezogen war, hatte sie nie aufgehört, dem Alltag Form zu geben, ihre Form wohlgemerkt. Feilte sie doch bis ins Sprachliche an den Äusserungen ihres Daseins! Dabei ging sie so wenig Kompromisse wie möglich ein, denn sich quallenartig im Lebensgewässer treiben zu lassen, lag ausserhalb ihres Trachtens. Vielmehr liess sie das Tagesgeschehen vor jedem Einschlafen nur los, um es beim Aufwachen ganz selbstverständlich wiederaufzunehmen, ob sie nun allein war oder nicht. Die bewusstlos verbrachte Spanne dazwischen bereitete ihr kaum Sorgen. Mochte der Mond (18) mit dem Abgelegten machen, was ihm passend schien! Sie vertraute ihrem Engel. Woher kam auch die Kraft, allgemeines Leben in ihr eigenes zu verwandeln?
Vom Wachen
714} Über dem Abgrund (43) ballen sich gleissende Nebel. Derart verhüllt ängstigen die senkrechten Klippen weder Schaf noch Bock. Das wilde Schäumen des Tobels im unergründlichen Felsschlund ist zu einem Murmeln gemildert. Die Wiese vor dem Waldrand glitzert aus tausend Tropfen im gelungenen Morgen. Ein Zaun erinnert noch an die schwindelerregende Gefahr nebenan, während die Sonnenstrahlen die Gräser allmählich trocknen und zwei dampfende Felle wärmen.
715} „Jede Nacht geht einmal vorüber”, seufzt die Rudelfreie voll Erleichterung. „Das war mir neu”, gähnt der Einzelgänger zerstreut. Die beiden Wegkreuzgefährten liegen bequem auf trockenem Boden vor den hochragenden Stämmen, Urbilder aufgetürmten Erdbodens, und blinzeln in die Lichtflut. „Natürlich ist das keine Neuigkeit für meinen erfahrenen Bruder”, lenkt die schlanke Schöne ein: „Aber es gibt sternlose Nächte, die mich daran zweifeln lassen, ob das Dunkel je aufhört.” Ihr fülliger Freund hebt den Schädel und leckt sich die Nüstern. „Das kommt von zu leichtem Schlaf”, gibt er zu bedenken: „und der kommt von zu leichter Kost.” „Diesen Diskurs haben wir schon oft genug geführt”, wehrt sie lächelnd ab.
716} „Was denkst”, fährt sie fort: „bist du zufrieden mit dem, was unsre Menschen treiben?” „Zufrieden bin ich nie”, versetzt er grossartig. „Versteh mich doch”, bittet sie: „Immerhin haben sie sich bewegt. Trotzdem der Mann wie ein Jungfalke (233) fortgeflogen ist, hütet die Frau ihren Bereich wie eine kluge Taube. Und prompt ist der Falke bei den Wässrigen gelandet, wo alles ausläuft, damit neu begonnen werden kann. Das lässt mich hoffen!” „Hoffen ist immer gut”, grummelt er: „überhaupt wenn's um Menschen geht. Oft könnt man meinen, sie hätten nichts andres als groben Unfug im Sinn, als wären sie eine Art schadhafte Stelle im Gewebe der Schöpfung.” Sie fährt auf: „Das ist doch nicht dein Ernst!” „Was ist schon ernst?” grinst er zurück.
717} Die Hirschkuh streckt den Kopf vor und zupft sich ein paar taufrische Gräser. Ihre zarten Kiefer beginnen zu mahlen. „Ich glaube, wir tun gut daran, beständig aufzupassen”, hält sie fest: „Wer kann denn wollen, dass ihr Kind ohne Vater aufwächst?” Der Bär sieht sich um. „Kein Honig nirgendwo?” brummt er und knabbert lustlos an einem Tannenzapfen vor seinen Tatzen. „Frischester Frass schwimmt dort tief unterm Dunst”, stöhnt er bekümmert: „und wir liegen heroben, als ob wir satt wären!” Sie blickt ihn von der Seite an: „Ist das wirklich alles, was du mir zu sagen hast?”
718} Der Braune richtet sich räkelnd auf. „Nein”, antwortet er: „das ist nicht alles. Die Wellenpendler, von denen du gesprochen hast, waren auf dem Weg zum el-Rischah-Gespann (296), die, von den ich spreche, kommen gerade von dort. Ausserdem würd ich lieber einen Widder reissen, wenn einer auf der Wiese wäre. Weil die Schafe aber alle unerreichbar sind heute früh, will ich mit dir aufpassen, wenn's recht ist.” „Was bin ich froh, dass sich mein Held nicht auch noch nach einem Stier sehnt”, erwidert sie weiterkauend.
719} „Bei allem Verständnis für deinen aussergewöhnlichen Magen”, spinnt die Hinde den Faden weiter: „unsre Hilfe könnte in jedem Augenblick gebraucht werden. Wohl haben uns die Menschen vergessen und feiern ihre Unabhängigkeit, aber entbindet uns das vom Begleiten?” - „Du hast ja recht, Schwesterherz, wir müssen wachen. Ohne uns kämen die Zweibeiner keinen vernünftigen Schritt voran!” - „Das habe ich wieder nicht behauptet.” - „Du nicht. Aber ist es nicht so?”
720} Aus der sonnenbeschienenen Nebeldecke erhebt sich ein mächtiges Flügelpaar, um Nachschau zu halten.
Von elektronischer Post
721} «Schon lange drängt's mich, dir ein eMail zu tippen, meine Wunderbare. Wenn wir uns brav an die Spielregeln halten und die censors nicht ärgern, dürfen wir in der Freizeit eines der dutzend notebooks im Aufenthaltszelt benützen. Ich fange gar nicht erst damit an, dir zu beschreiben, was alles mich bisher vom Schreiben abgehalten hat! Letztendlich haben mich doch nur meine inneren Zustände daran gehindert, denn weder sollten meine Sätze niedergeschlagen, noch sarkastisch klingen, obwohl für beides Anlass genug vorhanden wäre. Unbeteiligt schreiben geht sowieso nicht; das können hier nichteinmal die wenigen Journalisten.
722} Liebe, du oder der Lama, ihr wisst vielleicht besser als ich, warum ich mich in diesen fremden Bergen herumschicken lasse. Ich wiederum weiss mittlerweile, was es bedeutet, im Einsatz zu stehen. Es hat viel mit einfärbigem Alltag zu tun, monochrome day-to-day, aber auch mit Leben und Tod. Erst gestern hat es zwei von unserer Truppe erwischt, als sie einen Stein aufhoben, um damit ein Kabel zu beschweren: eine Springmine hat ihnen die Köpfe zerfetzt und die Rümpfe auseinandergeschleudert. Die Druckwelle hat uns ebenfalls umgeworfen, die wir keine hundertfünfzig Meter weiter eben dieses Kabel ans Netz anschlossen. Die beiden waren als unzertrennlich bekannt, fröhliche Dioskuren,(297) die bereits auf früheren missions gemeinsam Erfahrung gesammelt hatten und als unverwüstlich galten. Heute früh gab's ein briefing zum Thema safety, bei dem herauskam, dass die cats "in principle everything correctly" gemacht hätten und halt einem "incalculable risk" zum Opfer gefallen wären. Unkalkulierbar! Danach hatte keiner eine Frage an den captain, worauf der wieder meinte, im Bedarfsfall könnten wir uns an den chaplain wenden oder an den psycho. - Schon bin ich mit der Tür ins Haus gefallen; oder eher mit dem Deckel in den Bunker! Dabei wollte ich dir mitteilen, dass uns die Gebirgsluft und das kräftige Essen gut bekommen, wir alle gesund sind und solider als vor dem Abflug. Die Arbeit macht uns Spass, wir /censored by UNJOA/ und in den Zelten lebt es sich tatsächlich bequemer, als ich mir vorgestellt habe. Der alte Baden-Powell (298) hätte seine Freude am Lagerleben und hiesse uns fröhliche Lieder anstimmen!
723} Aber eigentlich wollte ich nach deinem Befinden fragen. Was macht die Diplomarbeit? Naja, die schaffst du mit links und sonst findest du Herrn Z. um die Ecke. Doch unserem Kind, unserer Tochter, wie du behauptest, wie geht es ihr? Wir würden hier die civilization verteidigen,(255) sagen sie, den Fortschritt ... Ihr seid mein Fortschritt! Ich denke so oft an euch Zwei-in-einer, wie das die Menschen am Rand der Gobi (299) ausdrücken würden! Dort befinden wir uns zwar wirklich nicht, aber ich könnte mich in jener sandigen Ursteppe kaum einsamer fühlen. Denn wie sollte ich mich ohne dich anders fühlen, du meinem Herzen unendlich nahe?»
Vom Wert des Rückschritts
724} „Wer rückwärts schreitet,
sieht das Vergangene vor sich,
aus seiner Krippe wachsen (300)
und von sich schwinden -
dies gleicht dem Strom,
der sich am Horizont zum Meer verbreitet,
sein Kräuseln dahin glättet,
die Wirbel, die ihm innestrudeln,(279) dehnt
und in die Ewigkeit entlässt
auf Nimmerwiederwirken,
wo jedes Strömen sich zur Ruh' begibt,
ergossen in den einen Schoss,
dem stillen (36) Hort allen Bewegens,
den schlichte Einfalt als den Tod begreift,
der unbegreiflich letzte Wärme löscht.(208)
Das Künftige bleibt allerdings verborgen.”
725} Lächelnd verneigte sich der Lama vor dem Vorsteher des Ortes. Dieser hatte ihn um Rat gefragt wegen eines Projekts internationaler Entwicklungszusammenarbeit. Eine Strasse sollte in den Sumpf gerissen werden, die den Ort mit dem geplanten Flughafen verbinden würde. Dann könnten die Einwohner ihre nassen Grundstücke teuer an jene Firmen verkaufen oder verpachten, die bereits ungeduldig auf Landen und Abheben der ersten Grossraumflugzeuge warteten. Und den Landlosen würden sich neue Erwerbsmöglichkeiten bieten. Lediglich ein kleiner, unbedeutender Tempel am Rand müsste geschleift werden, von welchem ohnehin niemand mehr wüsste, welcher Gottheit er geweiht war.
726} Nachdem der Wandermönch also geantwortet hatte, streckte er dem Schulzen die vier Finger seiner Linken entgegen. Sein Gegenüber sah erstaunt auf und wollte eine Frage stellen. Doch Lama Löntschen verwehrte dies. Als einzige Erklärung bildete er mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner Rechten einen Kreis. Lange blickte der Amtsträger auf die starken Finger vor seinem Gesicht und erwog den Sinn der beiden Mudras (301).
727} Hoch über dem kahlen Schädel und der Vorstehermütze zog ein dreistrahliger Jet über den tiefblauen Abendhimmel. Noch glänzten die weissen Haarnebel im Sonnenlicht, obschon erste Sterne im Osten aufleuchteten.
728} Nein, so leicht ist's gar nicht, die Astroglyphen zu lesen, in rechter Weise Leuchtpunkt mit Leuchtpunkt zu verbinden, um die Himmelszeichen zu verstehen, ja das Licht selbst zu befragen. Wenn die Menschen seit der Flut (3) darauf verfielen, allmählich die Tatsächlichkeit für wirklich zu halten,(197) so zeigt dies, was ihnen genommen worden war, da jenem still gewölbten Funkeln nur noch Aussagen über Verstrahlendes und Hinweise auf Verklumpendes zu entlocken sind. Nichteinmal zur Tagesmessung und Richtungsweisung dienen ihnen die Sterne mehr! Und wer sucht in ihnen noch Begleitung, Führung, Freundschaft?
729} Ein letztes Mal lächelte der alte Wanderer im Verneigen. Die Talwelt wurde ihm eng und er atmete schwer, Zeit für ihn, in die Einsamkeit zurückzukehren. In den eisigen Höhen war der Himmel noch klar, waren noch Leuchtpunkte erkennbar, von denen die Leute hier unten nichts mehr wussten, wenngleich sich allerhand über sie nachzuschlagen fand in den Bibliotheken oder in jenem ungreifbaren Netzwerk, von dem geraunt wurde, es hielte alles Wissenswerte bereit. Allein, wessen Unterricht war genügend vertieft worden, um das dort abgelegte Wissen in rechter Weise aufzunehmen, geschweige denn in ein Erkennen der Ursachen (226) umzuwandeln?
730} Auf seinem Weg durch die ansteigende Schlucht sann der Lama Schritt für Schritt darüber nach.
Vom falben Brunnen
731} Frag Allâh laut, frag Allâh leise,
bahn Allâh herzwärts eine Schneise,
dass Leitung gebe der Allweise
und Geleit.
732} In einem fort wiederholten die Studenten den Vers und berührten mit der Stirn jedesmal den Teppich, wenn der hochheilige Name fiel. So vertieft waren sie in ihr salat (41), dass sie nicht aufmerkten, als der Maulana sich erhob und in den Garten begab. Schleppenden Fusses schritt er über die Kieswege zwischen Rosenbeeten und Feigenbäumchen zum falben Brunnen. Das Becken mit dem hochschiessenden Wasserstrahl wurde so genannt, weil es aus blassgelbem Stein gehauen war und auf drei ebensolchen Sockeln stand, falb wie die Mondsichel am Abendhimmel. Die strenge Sitte gebot zu schweigen, wenn man von seinem Sprühnebel erfasst wurde, und der Pîr konnte sicher sein, hier weder eitel, noch tiefgründig angeredet zu werden. Er setzte sich auf eine der Bänke gleichen Steines im Wirkungsbereich der Fontäne. Das eintönige Psalmodieren in seinem Rücken verebbte und war bald vom Plätschern in der Schale übertönt.
733} Der alte Lehrer strich mit der schmalen Linken über den schlohweissen Bart und stützte das Kinn auf den rechten Arm. Was sollte er vom Anliegen der Schwarzbärte halten, die auch in seiner Medresse gelegentlich das Wort an sich rissen? Nichteinmal nur freitags hielten sie flammende Predigten über den Feind vor den Toren, der mit List und Gewalt heilige Stätten zu erobern trachtete, als wäre das Kreuz unbedingt ein Gegner der Sichel. Die Grimmigsten unter ihnen scheuten nicht davor zurück, zum unseligen Krieg um die rechte Seligkeit aufzurufen. „Und bekämpft in Allâhs Pfad, wer euch bekämpft”, eiferten sie: „Siehe, Allâh hat von den Gläubigen ihr Leben und ihr Gut für das Paradies erkauft. Sie sollen kämpfen im Weg des Allâh und töten und getötet werden. Eine Verheissung hiefür ist gewährleistet in der Torah, im Euangélion und im Qorân; und wer hält seine Verheissung getreuer als Allâh?” und „wenn ihr die Ungläubigen trefft, dann schlagt sie auf den Nacken, bis sie niedergerungen sind”.(302) Dies nannten sie dschihâd! Auf derlei zündende Worte meldeten sich immer wieder ein paar seiner Schüler begeistert zum Kampf, jene nämlich, die beim Beten auf das Tun ihrer Nachbarn schielten.
734} Dschihâd! Was sonst konnte das sein als der heilige Kampf um das Feuer eigenen Lichtes? Dass es dem Weltenrichter erstrahle! Der Prophet, gepriesen sei sein Name, hatte darauf hingewiesen, denn „so soll kämpfen im Weg des Allâh, wer das irdische Leben verkauft für das Jenseits” und „Wer da glaubt, kämpft im Weg des Allâh, und wer da nicht glaubt, kämpft im Weg des Tâghût”.(303) Bedeutsam war es fürwahr, dem siegreichen Allbeherrscher entgegenzuleuchten! Wär's nur ein unscheinbar Funkeln, dem Schöpfer zur Weihe, wär's dennoch ein Stern aus Liebe zum Erbarmer. Wie aber selbst dergestalt leuchten, wenn das Licht anderer prüfend beobachtet wird?
735} Beim Steinbild einer ruhenden Raubkatze, in angemessenem Abstand zum gebeugten Gelehrten, stand gesenkten Hauptes die tiefblau verschleierte Magd. Leicht auf den borstenlosen Stiel gestützt, harrte sie still eines Fingerzeigs.
736} Mit dem Plätschergeräusch zog Frieden in seine Seele. Er winkte der Magd. Da liess sie ihren Besen fahren, trat ans falbe Becken, schöpfte vom lebendigen Nass und brachte ihm den zinnernen (17) Krater (216); dabei hielt sie ihre Augen züchtig niedergeschlagen. Dankbar nickend nahm er diesen entgegen, hob ihn an die blassen Lippen und trank in langsamen Zügen.
737} Sich zu reinigen mag der Gläubige notfalls Sand verwenden,(304) überlegte er, trinken wird er ihn nicht. „Siehst du denn nicht, dass Allâh Wasser vom Himmel herabgesandt hat und es als Quellen in die Erde leitet?”, murmelte er: „Ist etwa der, dessen Brust Allâh für den Islâm ausgedehnt hat und der ein Licht von seinem Herrn hat ...?”(305) Denn was der Erde Wasser, das ist den Sternen Licht.
738} Ist den Sternen Licht, das, wenn sein Feuer säumt, dem Finstren Vorschub leistet. Wenn's säumt, ha! Geliebtes Licht, wann säumst du je? Doch nur, wenn aufhält dich ein Wollen, das, zur Form verdichtet, deinen Strahlgang kreuzt; das dich nicht will und hasst und andrem deine Liebe wehrt! Ein Nein zu allem, was bejaht, und Ja zu allem, was verneint. Vom Willen, der das Du nicht will, kommt uns der Krieg, der ewige, der, eingeschleust ins Zeitenwerden, das Raumessein (306) durchjagt und bis ins Adernetz des Menschen wirkt. Denn was den Sternen Licht, das ist dem Menschen Blut, und wird's vergossen, verglimmt sein Licht.
739} Der Becher fiel zu Boden, ersticktes Klirren im Kies. Die Magd war verschwunden, hatte sich wohl in den Basar zurückgezogen. Schwerfällig erhob sich der Maulana und strich mit zitternden Händen seinen Burnus glatt. Das Sprühen des Springbrunnens spürte er kaum noch. Ein aufgeregtes Stimmengewirr erreichte sein Ohr. Die Studenten hatten das vorgeschriebene salat beendet.
Von Kornähren
740} Ob Getreidehalme einst wirklich Korn bis untenhin trugen?(307) Eamsyne hatte ihren Spaziergang unterbrochen und schaute über ein reifes Feld. Der Wolkenwind strich darüber, sodass Wellen durch die Ähren zogen. Die Wetterlage schien günstig, bald könnte die Ernte beginnen. Welch sorgfältigen Fleisses bedurfte das tägliche Brot! Da konnte nicht viel improvisiert werden, vielmehr musste man mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen und die Hände rühren. Maschinen hinoderher, weder Bauer, noch Müllerin, noch Bäcker sonnte sich im Licht eigener Grösse, sondern kniete sich in die Arbeit, die notwendig ist, um Mägen zu befriedigen und damit wiedereinmal einen Kreislauf zu vollenden.
741} Wie ganz anders die Soldaten! Ihre Arbeit trug nicht zum Sattwerden bei, erzeugte auch keinerlei Ware, schuf kein Kapital.(308) Ihr Tun war auf Verbrauchen und Vernichten gerichtet; zum Schutz sagten die einen, zum Trutz die anderen, zum Frieden die Schlangenklugen. Ihr Wert bestand letztlich darin, einsatzbereit zu sein und bereit, ihr Leben zu riskieren sowie anderes auszulöschen. Sie vollendeten keine Kreisläufe, sie beendeten sie. Wo sie in durchschlagender Wirksamkeit tätig geworden waren, musste neu begonnen werden. Für derlei Leistungen, oft als Siege gefeiert, flossen ihnen Mittel und Ehren zu. Hinterher vergass man sie wieder. Herr Z. hatte bei irgendeinem türkischen Kaffee in bester Laune einmal gemeint, Soldaten wären verhinderte Philosophen, sozusagen gedankenfreie Kriegsfritzen und neuerdings -riken.
742} War Earasyn eigentlich gedankenfrei? Seine seltene Post klang nicht danach. Musste er aufhören zu denken, um überleben zu können, oder war er in dem Augenblick kein Soldat mehr, als er zu denken anfing? Earasyn war Vater, herrgottnochmal, also mochte er gefälligst nachdenken und dabei auch überleben!
743} Das sanfte Rauschen erreichte sie und erfasste ihr Kleid. Der leichte Stoff umspielte den schwer gewordenen Bauch. Sie fröstelte. Ein tiefer Atemzug half ihr, sich wieder zu finden. Einige wenige Wolken zogen eilig über den blauen Nachmittagshimmel nach Osten, als fürchteten sie, eine donnernde Versammlung hinter dem Horizont zu versäumen. Das Feld darunter träumte dem Schnitt entgegen. Ihr eigenes Warten würde wohl ebenfalls nicht mehr lange dauern. Sie brach einen der gelben Halme ab und nahm ihn mit auf den Heimweg.
744} Wieder in der Stadt angekommen, wählte sie eine Strasse, die sie an der Backstube vorbeiführte, obwohl sie ihretwegen einen Umweg in Kauf nehmen musste. Aus deren offener Ladentür strömte der Duft übriger Semmeln und Bretzel. Die Schaufensterscheibe spiegelte ihr eine Hochschwangere im Abendlicht, eine Kornähre (151) in der Hand. Sie musste lachen - nein, Jungfrau war sie wirklich keine.
745} Eher schon ihr lieber Reisiger in Sachen Telekommunikation, pedantisch wie er war! Ihr lieber Reisläufer, der froh sein konnte, wenn er nicht gezwungen wurde, zur Waffe zu greifen oder um sein Leben zu springen; nicht bestimmt, andere in den Tod zu führen; auch nicht genötigt, als Versehrter heimzukehren oder als Tiefgebeugter. Er, diese seltsame Inkarnation eines zupackenden Sinnierers! Kurz entschlossen erstand sie ein Plundergebäck mit Pfirsichfülle und biss gleich beim Verlassen des Ladens in den fruchtigen Zuckerguss, um der aufkeimenden Verbitterung zu wehren.
746} Ein Brief wäre weissgott wieder fällig, fand sie schliesslich, während sie die Haustüre aufschloss. Sei's auch nur einer dieser ausdruckbaren Rechnertexte im ausdruckslosen Schriftgewand genormter Typographie, gesiebte Worte mit nichtssagend harmlosem Bildanhang, ganz wie es den Befehlshabern beliebte. Sie querte den dunklen Gang zum Stiegenhaus. Erst als sie die Hand aufs kalte Geländer legte, merkte sie, dass sie auf dem Weg nachhause den sonnengereiften Halm verloren hatte.
Von Geschriebenem
747} Nüchterne Betrachtung wöge so manch Zeilengefüge auf, obschon Ausschmückungen das Geschriebene lesenswerter machen können, dann nämlich, wenn Kunst und Liebe zusammenwirken. Doch braucht solch zartfestes Weben Nähe ebenso wie Abstand, Leidenschaft wie Abgeklärtheit; zupackendes Verdichten braucht es und eben Loslassen. Glimmt nicht stets orange Röte im tränenden Auge, wenn ein Text fertig geworden ist, bereit, in die Welt zu fliegen, meinetwegen auf luftunterpolsterten Jumboschwingen? Einem Sonnenuntergang gleichend geschieht dies leuchtend klar oder verschleiert.
748} Wie drängend stösst dagegen Ungeschriebnes an den Tag! „Schreib!” heisst es oder so, „Im Namen deines Herrn, der erschuf, erschuf den Menschen aus Geronnenem. Schreib, denn dein Herr ist allgütig, der die Feder gelehrt, gelehrt den Menschen, was er nicht gewusst.”(309) Wer ist mein Herr? Wer, dass Er aus mir heraus drängt ins Wort und das Wort in die eigene Hand, die's gerinnen lässt zu Gesetztem? Weh denen, die zu wissen wähnen, wer ihr Herr! Da lob'ich mir die Bescheidenheit gelehrter Unwissenheit!(310) In Ruhe lässt sie mich schriftlich ausdrücken, was mich bewegt. Danach mögen andere das also Geborene deuten, wie es ihnen beliebt.
749} Oh eine nur, sie möge wirklich lesen, was ich zu sagen habe! Auf Papier diesmal, damit es knistert, wenn sie's entfaltet, damit sie riecht, in welchem Duftbereich das Blatt entstanden. Allerdings verliert es so an Aktualität. Wenn schon! Ob sie beim Lesen zufrieden lächeln wird oder murren, ich hätte anders schreiben sollen? Ich kann nicht deutlich genug spüren, was ihr grad gefallen wird, will mich bemühen, die Gedanken zu gewichten, dass sie nicht leeren oder stopfen. Doch steht am End' geschrieben „Quod scripsi, scripsi”(311). Und ist der Brief erst mal zensiert und abgeschickt, dann birgt er seine abgestorbne Botschaft, bis ein Augenpaar sie wieder weckt, zu welchen Gedanken immer.
750} Zu welchen Gedanken wohl? Die Kabel sind verlegt, die Verbindungen stehen. Die Poles halten die Höhen besetzt, wo die Antennen in den Himmel ragen. Zurückgezogen liegen wir im Talausgang und warten auf die Peruvians. Die Journalisten haben sich zu spannenderen theatres hinwegheben lassen. Das Canadian Detachment kommt gar nicht erst. Die Offiziere glauben, ihre Unruhe forsch verbergen zu können. Als ob man uns täuschen könnte! Alle wissen wir: die dogs kommen näher; entsprechend selten landen die Helis. Keiner von uns bringt noch Kraft zum Grinsen auf, keiner ausser einem. Aber den hat's gründlich am Bein erwischt, womit er out of action ist. Ich kann nicht behaupten, dass ich bedauere, wie er da mit seinen Ohrenstöpseln auf dem stretcher liegt, idiotisch getaktete lyrics im Kopf. Unser Leben beschränkt sich auf Essen, Trinken und Dösen sowie deren Gegenteil. Das soll ich ihr schreiben? Oder besser, dass die Luft heroben einem Kurort alle Ehre machen würde?
751} Der Bärenschädel wiegt darob hinundher, während der Hindenblick sich an die Ferne verliert. Wo kreisen die Adler, was schauen sie?
Vom Stechen
752} Tief unten kauerte das psammophile Spinnentier. Wie vom Himmel gefallen hockte es reglos im Steinstaub, als ob aus den Flügeln Scheren geworden wären und sich aus dem Schwanzgefieder ein Stachel gebildet hätte. Zäh harrte der gebogene Körper am unwirtlich trockenen Boden aus. Eine unbändige Kraft ruhte in seinen zarten Gelenken. Obgleich Widerpart des Kriegsgottes,(154) schien dieses Tierchen sich selbst zu genügen. Wie zum Beweis verbarg es alle Flüssigkeit in sich, auch die giftige. Und was es mit seinem roten Kugelpaar ausspähte, blieb sein Geheimnis.
753} Das Erdloch, das es sich gegraben hatte, lag einige Meter entfernt. Weit und breit war keinerlei Beute auszumachen. Weshalb hatte es sich aus dem sicheren Schatten gewagt? Gerufen oder nicht gerufen,(312) das gekrümmte Tier war da.
754} Earasyn trat aus dem Kommandozelt ins grelle Tageslicht. Unwillkürlich griff er nach der Sonnenbrille, um seine geröteten Augen zu schützen. Der Dienst war für heute beendet. Er konnte sich also den mageren Genüssen hingeben, die ihm seine Umgebung bot. Einer davon bestand darin, sich die Marschstiefel samt feuchten Socken auszuziehen und über den dünnen, warmen Sand zu laufen. Das reinigte die Füsse besser als das nur spärlich zur Verfügung stehende Wasser. Wie schnell sich der Mensch doch anpasst, dachte er, wenn's sein muss.
755} Rasch hatte er sich des engen Schuhwerks entledigt, was sich als dringend geboten herausstellte. Er stand auf und schritt gemächlich zum Mannschaftszelt. Zunächst gedachte er zu essen, danach wollte er endlich mit dem Brief beginnen. Seit Tagen wälzte er zärtlich hoffnungsvolle Halbsätze in seinem Herzen, Worte, die seine Sehnsucht beteuern sollten, seinen Willen, heimzukehren.
756} Irgendwo zwischen den Höhenzügen rollte ein dumpfes Donnern. Das war wohl die polnische Artillerie. Hatten die Feindkontakt oder übten die nur wiedermal? Die Polen übten nicht ungern auf Kosten der Vereinten Nationen. Und die Fernmelder lagen auf nämlichen Kosten hier herum. Wenn nur die Ablöse endlich käme! So ein Problem konnte das doch nicht sein. Ein paar schwere Helis und das Lager könnte in zwei Stunden übergeben werden. Warum nur blieb das beruhigend schlappende Brummen aus? Bald jede freie Minute horchten sie bereits in den stillen Himmel, im Blau jedoch rührte sich nichts.
757} Und dazu die Geheimniskrämerei der Intelherrschaften (313), die Zensur! Man tat, als lauschte das ganze Hochtal mit, die Steilhänge, Schotterhalden, Felsenklüfte! Jeder Stein ein Spion! Eine dumpfe Wut dampfte aus Earasyns Eingeweiden herauf. Was für Affen, was für himmeltraurige Affen! Wollten die wirklich warten, bis niemand mehr ausgewechselt werden konnte? Sollten sie denn hier verrecken, weil man sie vergessen hatte? Ihre Aufgabe war ja schliesslich erledigt! Mit einem Tritt schleuderte er eine leere Getränkdose zur Seite. Hohnmeckernd schepperte die Blechbüchse dahin und blieb vorm Schlafzelt liegen. Verdammte, elend verdammte Vollidioten! Da spürte er den Stich durch seine Ferse zucken.
Vom Schiessbefehl
758} Und wann wirst du mir rufen abzudrücken,
die Spannung meiner Waffe zu entladen,
um Kugeln in das ferne Ziel zu feuern,
das du bestimmt hast und gewollt?
Wann, frag ich, wirst du brüllen: „Drauf, mein Tiger,
verfehl mir nicht den Hundessohn, den räudigen!”?
Den Körper nämlich möge ich zerfetzen,
dem ich noch Hochachtung gezollt,
als du bereits verwehrt hast jede Regung,
weil er ein Glied sei schrecklicher Gespenster
und gefährlich, wie man folglich sagte,
solang er nicht zu Boden rollt,
Gebein und Blut zum Jammer seiner Mutter,
zum Elend seiner Schwester hingefallen
auf einen alten, staubbedeckten Felsen -
was mich nicht weiter kümmern sollt,
da mir die Zukunft winkt, dem heissen Helden
Bewunderung aus blauen Augen leuchtet,
die seine Ordensbrust mit Stolz befeuchtet ...
wo nicht der Schuss,
die automatisch ausgelöste Salve
nur über Kieselsteine tollt.
Von Grenzen
759} Von oben würde er kommen, der fleissige junge Mann, überlegte Herr Z. Was der unter den Steinen wohl erreicht hatte oder gar aufgebaut? Ob er von den Tiefen des Irdischen gekostet hatte? Ein paar Drähte würde er pflichtbewusst in den Sand gesetzt haben! Dem bornierten Starrsinn anderer unterworfen, wäre ihm darüberhinaus kaum mehr geblieben, als Ordnung zu halten und korrekt zu salutieren. Wie konnte man bei derlei Taten bloss verwundet werden? Jedenfalls lernte man auf diese Weise seine Grenzen kennen; und Grenzen mussten schliesslich erst erkannt sein, bevor sie überwunden werden konnten, am Ende die zwischen Erde und Himmel.
760} Herr Z. hatte auf einem der bequemen Korbsessel beim Imbissstand in der Ankunftshalle platzgenommen. Seiner guten Freundin war angekündigt worden, ihr heroj würde mit einem Truppentransport irgendwann nach Mitternacht landen, und sie hatte ihn, den alten Bosniaken, gebeten, ihr das beschwerliche Abholen abzunehmen. Zašto beschwerlich? Ringsum waren alle Schalter bereits geschlossen, bis auf die Information, deren helles liegende Rechteck den Blick auf gähnende Leere freigab. An den Nachbartischen sassen vereinzelt jüngere Frauen und ein paar Männer. Manchen von ihnen sah man an, wie sehr sie unter dem allgegenwärtigen Rauchverbot litten. Herr Z. litt nicht, niemals, wenn sein Kaffee heiss und stark genug war.
761} Wenn sein Kaffee heiss und stark genug war, konnte er lange ausharren, überhaupt an Plätzen, wo es allerhand zu beobachten gab. Die breite schwarze Anzeigetafel etwa blinkte und ratterte über den bewegungsgesteuerten Milchglastüren, hinter denen sich Pass- und Zollkontrolle verschanzt hielten. Immer wieder schoben sich die Scheiben auseinander, um übermüdete Reisende einzeln oder in Gruppen aus dem Flugbetrieb zu entlassen. Martialisch gerüstete Wachposten patrouillierten durch die Halle und hielten schläfrig Ausschau nach Eingriffsmöglichkeiten. Für eine gedämpfte Stimmung brauchten sie nicht zu sorgen, eine solche herrschte ohnehin über den Köpfen der Wartenden. Dannundwann schlenderte elegant uniformiertes Personal beiderlei Geschlechts vorbei. Fragte man dieses edle Volk nach der Ankunftszeit der Maschine aus Karatschi (314), so zeigte es sich allerdings gänzlich uninformiert.
762} Wie lange dieser Zirkus noch dauern mochte? Die Tasse stand geleert vor ihm, ein dürftiger Anblick. Einen weiteren Espresso gefällig? Ništa, es würde auch ohne gehen. Zeitung stand keine zur Verfügung. Lesestoff konnte lediglich der offizielle Brief bieten, den Ehamsija ihm mitgegeben hatte. Darin stand, sie möge sich ab null Uhr fünfundvierzig im Ankunftsbereich des Flughafens einfinden, wo man sie aufrufen würde - oder ihn eben. Ein kleiner Rundgang wäre nicht übel, dachte er und streckte seine Glieder; zum Beispiel an jener unscheinbaren weisslackierten Stahltür vorbei, die ihm gerade aufgefallen war. Vor welchen Räumen hielt sie das Publikum fern, abweisend glatt wie sie gestaltet war? Während er das klinkenlose Türblatt noch musterte, wurde dieses mit einem Summton von innen geöffnet. Ein stattlich bekappter wie lamettabehängter Offizier trat aus dem schattigen Rechteck in die lichterreiche Halle. Mit zusammengezogenen Brauen blickte er in die Runde, als ob er nach Missetäterinnen und Missetätern suchte, dann gebot sein gepresster Bariton den „Damen und Herren Wartenden auf die Passagiere von Flug Ju-En won-tu-six-won”, ihm zu folgen.
763} „Was lange währt, wird endlich gut”, brummte Herr Z. und erhob sich, um vor dem gestrengen Herrn Portier über die Stahlschwelle (315) in den dahinter wegführenden, matt beleuchtenden Gang zu treten.
Von Veränderungen
764} Eamsyne legte den heissgelaufenen Hörer auf und seufzte. Gleich nach Herrn Z., dem rührend weitschweifigen Professor, hatte der Rabbi angerufen, um ihr langatmig seine grosse Erleichterung kundzutun und ihr Glück zu wünschen, nicht ohne den einen oder anderen freundlichen Hinweis auf ihre weiteren Lebensumstände unterzubringen. Dann hatte er den Apparat seiner Gattin übergeben, welcher dringend gewesen war angelegen, ihr Herz auf liebenswerte Art sprudeln zu lassen und nicht etwa zu geizen mit ihren praktischen Ratschlägen, so entlegen diese auch sein mochten.
765} Jetzt war es geradezu still in der kleinen Mansarde, obschon das Dachfenster offenstand. Von widerstreitenden Gefühlen bewegt, brauchte die Frau die kaltfeuchte Luft, das blasse Licht des Spätherbstmorgens, brauchte den atembaren Anschluss an den Himmelsraum, der ihr den Ruch (316) der Freiheit bot.
766} Gewiss, sie dachte nicht daran, nach anderer Leute Regeln zu leben, nach anderer Gruppen Bräuchen zu tanzen. Doch übermorgen würde ihr Herr Funker wohl wieder heroben Einzug halten. In häusliche Pflege entlassen, würde er endgültig Einzug halten, zumal die von ihm bisher benutzte Wohnung bald von deren widerwärtigem Eigentümer beansprucht werden konnte. Nun also sollte ihr Gefährte kommen, und bald danach ihr Kind! Das bedeutete eine umso stärkere Einschränkung, als sie bereits ans alleinstehende Leben gewöhnt war. Ob sie die heraufziehende Enge ertragen würde? An Ideen, mit dieser umzugehen, würde es ihrem UNVolunteer jedenfalls nicht mangeln.
767} Andererseits erschien ihr die gemeinsame Nähe in innigen Farbtönen. Natürlich wusste sie, dass sie sich immer gewünscht hatte, Earasyn möge die Geburt des Kindes begleiten. Trotzdem sie darauf eingestellt gewesen war, jene neue Erdenbürgerin allein willkommen zu heissen, durchfuhr sie eine warme Welle dankbarer Freude ob seiner rechtzeitigen Wiederkehr, und beileibe nicht nur, weil er der Vater war. Er war eben er, mehr, er war ihr Du.
768} Sie atmete tief ein und hielt die frische Luft an. Ein zarter Stoss in ihrer Wölbung schien ihre bangen Fragen beantworten zu wollen. Sie klopfte mit dem Mittelfinger dreimal an die Stelle, wo sie die Regung gespürt hatte. Dies wurde mit einem noch zärtlicheren Stoss erwidert. Da fuhr sie mit der Hand unter das Hemd und legte sie auf die Haut. Durch die Bauchdecke glaubte sie eine kleine Handfläche zu spüren, die ihr entgegengestreckt wurde.
769} Derweil stellte sich auf der Zimmerwand ein eigenartiges Bild ein. Als sie dessen gewahr wurde, schaute das ernste Antlitz eines alten, kahlköpfigen Asiaten in ihren Raum, wobei der Mann sich anschickte, eine Art Zinnkrug über die Schulter zu leeren.(103) Aufgewühlter Sinne starrte sie das Gesicht an. Was sollte ihr das? Wer kündete hier was? Ihr Gehirn zitterte unter dem wirren Anflug aufgescheuchter Gedankenfetzen, die von überallher auf sie eindrangen; Krähen und Möwen, die in der Seelenlandschaft krächzend und kreischend nach Futter suchten. Welcher Text wurde von ihr erwartet, welcher Satz? Doch die Erscheinung glomm auf und erlosch gleich einer abgebrannten Kerze. Im Herzen der jungen Mutter breitete sich eine Ahnung aus wie Mondlicht in der Landschaft: ein Rinpotsche (91) hatte sich verabschiedet.
770} Eamsyne trat ans Fenster und entliess die angestaute Luft sirrend in den beissenden Morgenwind. Eine massige Wolke geruhte in Gestalt einer liegenden Kuh, sich träge über Dächer und Türme ostwärts treiben zu lassen.
https://wfgw.diemorgengab.at/eameara11.htm