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Merkblatt-
Beilage 19:
Der Papst und seine „Philosophie der Freiheit”
Zu Günter Röscherts Aufsatz „Werte im Sein und die moralische Phantasie”
in »Das Goetheanum« Nr.33-34·2005
1a Mit großem rhetorischem Aufwand möchte Günter Röschert uns den neuen Papst als offen für die geistigen Ziele der Anthroposophie andienen - „Menschheitsökumene” wetterleuchtet durch seinen Artikel allenthalben, nicht nur im Finale. Kardinal Ratzinger hat den christlichen Glauben als - man höre - eine „Philosophie der Freiheit” bezeichnet - bei Ratzinger ohne Anführungszeichen, wie Röschert feststellt. Und Röschert meint weiter, es sei „nicht bekannt, ob Ratzinger wußte, daß dieser Ausdruck schon 1894 von Rudolf Steiner in Anspruch genommen wurde”. Der zitierte Wortlaut von Kardinal Ratzinger enthält indessen dazu eine Aussage, schreibt er doch: „Die Freiheitsidee ist das Kennzeichen des christlichen Gottesglaubens gegenüber jeder Art von Monismus” [Hervorhebung, A.H.]. Daß Rudolf Steiner seine Philosophie der Freiheit als Monismus [a] bezeichnete, das wissen nicht nur Anthroposophen; das weiß auch ein Kardinal Ratzinger. Man lese in seinen Lebenserinnerungen nach.¹ Den Studenten am Priesterseminar zu Freising beschäftigte unter anderem „eine vielgelesene Philosophie der Freiheit” - von Aloys Wenzel. Der Verfasser dieses 1947 in München erschienenen Werkes kommt schon im zweiten Satz des Vorwortes auf die «Philosophie der Freiheit» Rudolf Steiners zu sprechen. Er rechtfertigt, sein Werk mit dem gleichen Namen zu benennen, damit, daß er sein Thema von einem Rudolf Steiner gegenüber „ganz unabhängigen Standpunkt” bearbeite und darstelle.² - Damit steht fest: Kardinal Ratzinger weiß schon aus Studentenzeit, daß der Monist Rudolf Steiner eine Philosophie der Freiheit geschrieben hat.³ Und inzwischen gibt es eine ganz andere Philosophie der Freiheit: jene, welche Ratzinger als den „christlichen Glauben jeder Art von Monismus” entgegensetzt. - Was Röschert einander annähern will, setzt Ratzinger gegeneinander.
1b Es ist unmöglich, ein Thema wie das von Röschert angeschlagene zu bearbeiten, ohne auf das von Kardinal Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation verantwortete Lehrdokument des Katechismus der katholischen Kirche einzugehen. Im Abschnitt über das katholische Glaubensbekenntnis kommt das Werk auf jenen Brief des Apostels Paulus [b] zu sprechen, in dem dieser den Menschen als Dreiheit von Geist, Seele und Leib anspricht (1Thess.5,23): „Manchmal wird die Seele vom Geist unterschieden. So betet der heilige Paulus: ,Gott heilige euch ganz und gar und bewahre euren Geist, eure Seele und euren Leib unversehrt, damit ihr ohne Tadel seid' bei der Wiederkunft des Herrn. Die Kirche lehrt, daß diese Unterscheidung die Seele nicht zweiteilt. Mit ,Geist' ist gemeint, daß der Mensch von seiner Erschaffung an auf sein übernatürliches Ziel hingeordnet ist und daß seine Seele aus Gnade zur Gemeinschaft mit Gott erhoben werden kann.”⁴ Für den Apostel Paulus ist der Mensch eine Wesenheit, welcher er drei Glieder zuschreibt: Geist, Seele und Leib. Kardinal Ratzinger verantwortet, daß bis heute die Kirche dem Apostel Paulus widerspricht und den Geist nicht in gleicher Art als Wesensteil des Menschen betrachtet wie Leib und Seele. Indem nun Ratzinger an dieser entscheidenden Stelle als Quelle auf die Konzilsakte des Konzils von Konstantinopel im Jahr 869 [c] verweist,⁴ bewahrheitet er Rudolf Steiners Forschung durch die Tat. Die damalige „Abschaffung des Geistes”⁵ war ein Ereignis, das bis in das Denken von Kardinal Ratzinger hinein fortwirkt.[d]
1c Ohne individuelle Teilhabe am Geist ist der Gedanke der Freiheit aber inhaltslos. Die «Philosophie der Freiheit» Rudolf Steiners ist aber nichts weniger als die Überwindung jener Abschaffung des Geistes durch das Konzil von 869. Sie ist die Einsetzung des Geistes in die individuelle freie Verfügbarkeit des Menschen. So wird verständlich, weshalb Rudolf Steiner die «Philosophie der Freiheit» die „Erkenntnistheorie im Sinne des Paulus” nennen konnte.⁶ Sie bestätigt und bewahrheitet den Menschen-Geist, von dem Paulus spricht. Papst Benedikt XVI. hält demgegenüber an der geistigen Entmachtung der gläubigen Seele fest, wie sie 869 von seiner Kirche ausgesprochen wurde. Es ist deshalb nicht berechtigt, den „christlichen Gottesglauben” eine „Philosophie der Freiheit” zu nennen.[e]
¹ Joseph Kardinal Ratzinger: Aus meinem Leben, München 1998, S.48.
² Aloys Wenzel: Die Philosophie der Freiheit, 2 Bde, München 1947.
³ Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit (1894), Dornach 1987.
Katechismus der katholischen Kirche, Leipzig 1993, S.125
⁵ Diese Wendung benutzt Rudolf Steiner in vielen Vorträgen, z. B. in: Die geschichtlichen Hintergründe des Ersten Weltkrieges (GA 174b), Vortrag vom 15. Mai 1917; oder in: Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha (GA 175), Vortrag vom 27. März 1917
⁶ Rudolf Steiner: Der Christus-Impuls und die Entwicklung des Ich-Bewußtseins (GA 116), Vortrag vom 8. Mai 1910
Armin Husemann, Stuttgart (DE)
in »das Goetheanum« Nr.37·2005
Anthroposophie und Kirche
2a In den letzten Monaten sind in anthroposophischen Zeitschriften einige Artikel zur katholischen Kirche erschienen.¹ Da mich die merkwürdige Begeisterung für den neuen (deutschen) Papst beunruhigt, möchte ich von einem persönlichen Erlebnis in unmittelbarer Nähe zum Vatikan berichten.
2b Im Mai 1971 erhielt ich eine antiquarische Anfrage aus Rom. Der Botschafter des neuen „Souveränen Tempelherren-Ordens”, Don Johannes D. Becker, suchte das im Verlag Freies Geistesleben erschienene, aber vergriffene Buch von Krück von Poturzyn über die Templer.² Im Laufe der folgenden Jahre konnte ich Don Becker mehrere Exemplare anbieten, die er dann auch bestellte. Ich war erstaunt, daß ein Vertreter des Templerordens im Vatikan arbeitete und sich anthroposophische Bücher zusenden ließ. So nahm ich mir vor, diesen interessanten Mann bei meiner nächsten Romreise aufzusuchen.
Persönliches Erlebnis in Rom
2c In der zweiten Novemberwoche 1982 besuchte ich ihn in seinem Appartement in unmittelbarer Nähe des Vatikans. Nachdem Don Becker und ich intensiv über den Templerorden gesprochen hatten und meine Zeit bei ihm eigentlich um war, kamen wir noch auf persönliche Dinge zu sprechen. Dabei stellte sich zu unserer beider Überraschung heraus, daß er alljährlich im Benediktinerkloster Gerleve bei Münster seine Exerzitien pflegte, in dem Kloster, in dem ich geboren wurde.³ Das nahm er staunend zur Kenntnis und betrachtete es auch als schicksalhaftes Zeichen, so daß er sich, wie der weitere Verlauf des Nachmittags zeigen sollte, wesentlich mehr Zeit für mich nahm, als vorgesehen. Auf meine Fragen, wie es denn sein könne, daß ein Geistlicher der katholischen Kirche (er war bischöflicher Sekretär von Santo Angelo und Prokurator für brasilianische Bischöfe in Rom) gleichzeitig Botschafter des Templerordens sein könne und wie sich die Kurie dazu stellen würde, erklärte er mir, daß sich das gut miteinander vereinbaren ließe und daß es im Vatikan auch moderne Bestrebungen gäbe. Hatte ich zuvor schon bemerkt, wie weltoffen und liberal dieser Mann war, so war diese Aussage für mich das Signal, ihm zwei Fragen zu stellen, die mir schon lange auf der Seele lagen.
2d Ich sagte ihm, daß ich während meiner Ersatzdienstzeit in der anthroposophischen Heilpädagogik (1964-1966) gehört hätte, daß es eine Reihe von Jesuiten geben solle, die vom Vatikan beauftragt waren, das Werk Rudolf Steiners zu studieren. Das bejahte er nicht nur, sondern meinte, daß die Jesuiten das wohl gründlicher machten als manche Anthroposophen selbst. Im weiteren Gespräch über Anthroposophie und Christentum stellte ich ihm die Frage, ob es zuträfe, daß ausgewählte Mönche im Auftrag des Papstes (oder der Kurie) Rudolf Steiners Werk ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?› (GA 10) meditieren würden. Hier bemerkte ich zum erstenmal, daß Monsignore Becker mit der Antwort zögerte. Dann aber führte er mich zum Fenster und sagte schlicht, wenn es die Häuser vor seinem Fenster nicht gäbe, könnte ich das Kloster, wo diese Inhalte studiert und meditiert würden, sehen. Er hatte nicht deshalb gezögert, um sich eine Ausrede auszudenken, sondern sich wohl überlegt, ob es ratsam sei, dem Stuttgarter Buchhändler die Wahrheit zu sagen.
2e Einige Jahre später fand ich in der von Jesuiten herausgegebenen Zeitschrift ‹Stimmen der Zeit› zwei kenntnisreiche (selbstverständlich katholisch interpretierte) Beiträge über Anthroposophie und Christentum.⁴ Ferner bestätigte mir Wilhelm Maas vor etwa zehn Jahren, daß es sich bei dem von Don Becker erwähnten Kloster in Rom um San Anselmo handelt (Benediktinerkolleg und Benediktinerhochschule).
2f Wir haben also den Tatbestand, daß das Werk Rudolf Steiners sowohl intellektuell als auch esoterisch von der katholischen Kirche seit Jahrzehnten benutzt wird. |
¹ Siehe u.a. Günter Röschert: Der Papst und die Aufklärung. Werte im Sein und die moralische Phantasie, im ‹Goetheanum› Nr.33-34/2005; Wilhelm Maas: Anwalt des Logos. Joseph Ratzinger als Philosoph und Theologe, in ‹Die Drei› Nr.7/2005.
² Maria J.Krück von Poturzyn: Der Prozeß gegen die Templer. Ein Bericht über die Vernichtung des Ordens, Dornach 2003.
³ Während des Zweiten Weltkriegs und aufgrund der großen Luftangriffe auf Münster wurde das Kloster Gerleve, das 30 Kilometer von Münster entfernt liegt, von den Nazis als Entbindungsstation zweckentfremdet.
⁴ Bernhard SJ Grom: Anthroposophie und Christentum, in ‹Stimmen der Zeit› Nr. 5 und 6/1988.
Walther Streffer, Stuttgart (DE)
in »das Goetheanum« Nr.44·2005
Der Freiheitstheologe
3 Nicht theologische Lehre, sondern innerer Drang, Inhalt und Sinn christlichen Glaubens aus dem Nebel von Ungewissheit und Veräußerlichung zu lösen und in den Grundwahrheiten nachvollziehbar zu machen, hatte 1968 bereits zu dem Buch geführt, das zwanzigfach übersetzt den Namen Ratzingers in die Welt trug: ‹Einführung in das Christentum›. Mit ‹Hans im Glück› vergleicht er dort den Menschen der Gegenwart. Dieser tauscht seinen Goldklumpen für Pferd, Kuh, Gans und Schleifstein, den er schließlich glücklich ins Wasser wirft, und freut sich seiner Freiheit. Es ist die falsche Freiheit.[f] Das Bild traf. Es tut dies heute noch. Denn Freiheit im schöpferischen Akt des Handelns und Denkens aus Gott: das war Ratzingers Lebensthema. So liest man, mit Staunen, christlicher Glaube heiße, dass ein schöpferisches Bewusstsein, von seiner schöpferischen Freiheit her, das Gedachte in die Freiheit eines eigenen und selbständigen Seins entlassen habe. «Das Modell, von dem aus die Schöpfung verstanden werden muss, ist nicht der Handwerker, sondern […] das schöpferische Denken. Zugleich wird sichtbar, dass die Freiheitsidee das Kennzeichen des christlichen Gottesglaubens gegenüber jeder Art von Monismus ist. An den Anfang allen Seins stellt er nicht irgendein Bewusstsein, sondern eine schöpferische Freiheit, die wiederum Freiheiten schafft. Insofern könnte man in einem höchsten Maße christlichen Glauben als eine Philosophie der Freiheit bezeichnen.»
Marcus Schneider
in »das Goetheanum« Nr.3-4·2023
Unsere Anmerkungen
a] Im Gegensatz zum Dualismus behauptet der Monismus die Existenz ausschliesslich eines einheitlichen Grundprinzip des Seins, nicht zu verwechseln mit dem Mohismus (einer chinesischen Nützlichkeitsphilosophie, die vom Wohl des Volkes ausgeht).
b] vgl. Mbl.27
c] aus J.DOMINICUS: «Sacrorum Conciliorum Nova et Amplissima Collectio», Vol.16; 1960, S.166f:
„XI. Quod oportet anathematizare omnem qui impie ac laesis sensibus habere hominem duas animas opinatur. / Veteri et novo testamento unam animam rationabilem & intellectualem habere hominem docente, & omnibus Deiloquis patribus & magistris ecclesiae eadem opinionem asseverantibus, in tantum impietatio quidam, malorum inventionibus dantes operam, devenerunt, ut duas habere animas impudenter dogmatizare, & quibusdam irrationabilibus conatis per sapientiam, quae stulta facta est, propriam haeresim confirmare pertentent. Itaque sancta haec & universalis synodus, veluti quoddam pessimum zizanium, nunc germinantem nequam opinionem, evallere festinans; immo vero ventilabrum in manu veritatis portans & igni inextinguibili transmittere omnem paleam, & aream Christi mundum exhibere volans, talis impietatis inventores & patratores, & his similia sentientes, magna voce anathematizat, & definit, atque promulgat, neminem prorsus habere, vel servare quomodo statuta huius impietatis auctores. Si autem quis contraria gerere praesumpserit huic sancto & magno synodo, anathema sit, & a fide atque cultura Christianorum alienus.”
(XI. Dass es angebracht ist, jedermann zu verfluchen, der ruchlos und provokant meint, der Mensch habe zwei Seelen. / Während das Alte und das Neue Testament lehren, der Mensch habe eine einzige vernünftige und erkennende Seele, und alle von Gott sprechenden Kirchenväter und -lehrer beharrlich die gleiche Meinung vertreten, sind gewisse Leute, die sich mit den Erfindungen des Bösen beschäftigen, zu einem solchen Grad von Ruchlosigkeit gelangt, dass sie versuchen, schamlos zu lehren, der Mensch besitze zwei Seelen, und mit unvernünftigen Bemühungen durch eine dumm gewordene Weisheit die eigene Irrlehre zu bekräftigen. Daher beeilt sich diese heilige und universelle Synode, ebenso wie die schlimmste Zwietracht die nun keimende leichtfertige Meinung auszutilgen; noch mehr trägt sie freilich in der Hand die Wurfschaufel der Wahrheit, und mit unauslöschlichem Feuer will sie alle Spreu überziehen und die Tenne Christi rein machen; die Erfinder und Vollstrecker solcher Ruchlosigkeit und ähnlich wie diese Denkende verdammt sie mit lauter Stimme, und sie setzt fest und verlautbart, dass niemand in Hinkunft irgendwie halten oder einhalten soll die Bestimmungen der Urheber dieser Ruchlosigkeit. Wenn sich aber jemand unterfangen sollte, im Gegensatz zu dieser heiligen und großen Synode zu handeln, so sei er verdammt und von Glauben und Kultur der Christen ausgeschlossen.)
d] vgl. »Die Enzykliken von Johannes Paul II.«
e] wieder ein Beispiel von begrifflichem Etikettenschwindel
f] nämlich unbeschwerte Beliebigkeit
Literatur
GROM, B.: «Anthroposophie und Christentum»
KUNZMANN, P. et al.: «dtv-Atlas zur Philosophie»
PALMER, O.: «Rudolf Steiner über seine Philosophie der Freiheit»
RATZINGER, J.: «Glaube und Zukunft»
RATZINGER, J./SEEWALD, P.: «Salz der Erde»
https://wfgw.diemorgengab.at/WfGWmblB19.htm