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Merkblatt 3:
Vom Wort Anthroposophie
einem Welt- und Menschenbild
Fragment 1
Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge.
Novalis
aus «Gesammelte Werke - Zweiter Band»; S.10
Il faut, dans le domaine des rapports entre l'homme et le surnaturel, chercher une précision plus que mathématique; cela doit être plus précis que la science. Im Beziehungsbereich zwischen dem Menschen und dem Übernatürlichen muss eine mehr als mathematische Genauigkeit gesucht werden. Dies muss genauer sein als die (Natur)Wissenschaft.
Simone Weil  
aus «La pesanteur et la grâce», p.150  
Das Wort „Anthroposophie” setzt sich aus ὁ ἄνϑρωπος (ho ánthropos ~ der Mensch) und ἡ σοφία (he sophía ~ die Weisheit¹) zusammen. Es hat demnach eine Doppelbedeutung, einerseits „Weisheit des Menschen”, andererseits „Weisheit vom Menschen”. Wie man das Wort aber auch auffassen mag, stets steht der Mensch als solcher im Ausgangspunkt, dh. er ist sich seines Menschentums bewusst.
„Das Wort taucht bereits in der Renaissance in dem Buch Arbatel, einem kleinen Zauberbuch über weiße Magie auf.² [...] Später erscheint das Wort immer wieder im Kontext der christlichen Theosophie, wie sie im deutschsprachigen Raum besonders gelebt hat, oft mit gewissen Verbindungen zum rosenkreuzerischen Impuls. Dass der Begriff ‹Anthropos› mit dem Begriff ‹Sophia› gerade in der Renaissance zusammengebracht wird, ist vielsagend. Es ist eine Individualisierung des Verhältnisses zur Weisheit. So sehen wir, wie Anthroposophie im Schoß christlicher Theosophie entsteht, die dann - es ist bekannt - einen gemeinsamen und wichtigen Kulturhintergrund für die Denker und Künstler der deutschen Naturphilosophie und des Idealismus in der Goethezeit bildeten. In dieser Zeit erscheint dann der Begriff ‹Anthroposophie› im Rahmen der Philosophie.”
Louis Defèche
2 Arbatel De Magia Veterum. Basel 1575.
in »Das Goetheanum« 9·2021; S.14
ANTHROPOSOPHIE kann entweder erstarrt²
als
überliefertes Lehrgut begriffen werden, das durch die Individualität Rudolf Steiner ins Menschheitsbewußtsein hereingebracht worden ist und weitergepflegt werden kann - dann ist sie tot und wird tradier- wie zitierbar, aber auch dogmatisch;
oder beweglich³
als
Erkenntnisansatz, der vom Menschen als dem Mikrokosmos ausgeht und zur Welt als dem Makrokosmos führt, wobei er methodisch des Menschen einzig vollbewußte Seelenfähigkeit, das Denken, anwendet (ist ja Fühlen traum- und Wollen schlafbewußt), um das jeweils beobachtete Phänomen zu verarbeiten - hier wirkt man unter Ausschluß der Anderen (antisozial);
weiter als
Weg, der begangen werden kann,⁴ wozu es allerdings der Fähigkeit, ihn zu gehen, bedarf (diese Fähigkeit ist in jedem Menschen angelegt und kann erübt werden), und der Ausdauer (Disziplin und Konsequenz), der es einem jedoch freiläßt, ihn zu beschreiten oder nicht - hier wirkt man, ohne die Anderen zu berücksichtigen (asozial);
schließlich auch als
soziales Tun, in dem der Mensch seine Stellung in der Menschheit und deren Stellung zur Welt erfährt, dadurch Achtung vor dem Menschen gewinnt und für ihn tätig werden will - hier wirkt man in Hinblick auf die Anderen (sozial).
Die vier dargestellten Arten, mit Anthroposophie umzugehen, weben im gesunden Leben ineinander - für sich allein genommen und angestrebt wird jede der Arten zu Schäden führen, einerseits zu Sektierertum, andererseits zu
Seelenkälte,
Fanatismus/Fundamentalismus oder
Gewaltmenschentum.⁵
Wie drückte dies der Begründer der Anthroposophie in seinem 1.Leitsatz aus?
1 „Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte. Sie tritt im Menschen als Herzens- und Gefühlsbedürfnis auf. Sie muß ihre Rechtfertigung dadurch finden, daß sie diesem Bedürfnis Befriedigung gewähren kann. Anerkennen kann Anthroposophie nur derjenige, der in ihr findet, was er aus seinem Grunde heraus suchen muß. Anthroposophen können daher nur Menschen sein, die gewisse Fragen über das Wesen des Menschen und die Welt so als Lebensnotwendigkeit empfinden, wie man Hunger und Durst empfindet.”
Goetheanum, 17.Feb.1924 ☉
aus «Anthroposophische Leitsätze»; S.14
2 Heutzutage formuliert dies zB. der Berner Arzt Peter Heusser folgendermassen:
„Die Anthroposophie versteht sich als eine empirische Geisteswissenschaft, die Erkenntnisse über die geistigen Bereiche der Wirklichkeit mit derselben Erkenntnissicherheit gewinnen und für die praktischen Lebensbedürfnisse fruchtbar machen möchte, wie das die Naturwissenschaft [nicht der Materialismus] für die materiellen Bereiche der Wirklichkeit mit großem Erfolg bereits seit mehreren Jahrhunderten tut. Anthroposophie ist somit eine jüngere Schwester der Naturwissenschaft. Sie ist mit ihrer geisteswissenschaftlichen Erkenntnismethodik schon von Denkern des 19. Jahrhunderts gefordert worden, so von Ignaz Paul Vital Troxler an den Universitäten Basel und Bern und von Immanuel Hermann Fichte an der Universität Tübingen. Erkenntniswissenschaftlich begründet, methodisch ausgearbeitet und bis in Einzelheiten erforscht wurde die Anthroposophie dann bekanntlich um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert durch Rudolf Steiner. Daraus ist eine Vielzahl von erfolgreichen praktischen Anwendungsgebieten [s.u. weiter] entstanden.”
in »das Goetheanum« 1-2·2019; S.7
3a Der Astronom und Publizist Wolfgang Held meint zeitgeistig:
„Im Streit, ob Anthroposophie Wissenschaft oder Religion ist, bietet sich an, sie als große Erzählung zu nehmen.”
3b Dann schlägt er vor:
„Um nicht zum Epigonen zu werden, sollte man lernen zu tanzen. Denn wer tanzt, folgt nicht stur einem einmal erfassten Ziel, sondern hat alles im Auge und wählt im Moment den besten, schönsten, musikalischsten Schritt. Rudolf Steiners Hinweise werden dann weniger Gesetz und mehr Inspiration. Tänzerisch mit Anthroposophie umzugehen, bedeutet, sich eher von Rudolf Steiners Forschungsart und weniger von seinen Forschungsergebnissen inspirieren zu lassen.”
3c und ergänzt:
„Wie soll in einer Generation hier die Landschaft aussehen? Das ist die Spanne gärtnerischen Handelns: Man ist im täglichen Gespräch mit der Umgebung und hat zugleich einen Blick, der über das eigene Leben hinausragt. So sollte vermutlich auch die spirituelle Kulturarbeit sein. Wie soll die Gesellschaft in 30 Jahren über Wiederverkörperung denken - und wie ist heute darüber das Gespräch, in das man sich einbringen kann? Diese polaren Fragen sollten, so gegensätzlich sie sind, in der Seele leben und unser Handeln befeuern. Und noch etwas: Zum Gärtnern gehört, das, was sich als wenig lebensfähig erweist, herauszunehmen, um Platz für Neues zu schaffen. Auch das spiegelt sich, so meine ich, in der anthroposophischen Arbeit.”
in »das Goetheanum« 33-34·2023; S.10+11
Anmerkungen
1 vgl. Weisheit
2 deshalb der Analyse (dem Zergliedern, vgl. H.Grimm zur Geschichtsbetrachtung) durch den Verstand zugänglich
3 deshalb der Synthese (Zusammenschau) durch die Vernunft zugänglich - So schrieb R.Steiner 1917: „Immer ist aber zu berücksichtigen: gefunden können die Wahrheiten der Anthroposophie nur durch schauendes Erkennen werden; liegen sie aber als gefundene vor, dann kann die Intellektualitat alles durchdringen, wenn diese nur wirklich in freier, innerer Logik weit genug gehen will. (vgl. GA 45, S.22ff) Wenn so viele unserer Gegner meinen, die Intellektualität widerstrebe der Geisteswissenschaft, so ist dies ein Irrtum, der nur davon kommt, daß viele unserer Zeitgenossen eine verstümmelte Intellektualität gebrauchen, die sich durch die an den äußeren Naturerscheinungen gewonnenen Halb-Begriffe gängeln läßt.” (in «Briefe II»; S.468f) - vgl. »TzN Sep.2018«
zu 2 u. 3 vgl. J.W.v.GOETHE: BW116 u. MR219, aber auch R.Steiner zur „Fusswaschung
4 vgl. Mbl.19
5 vgl. Mbl.16
Literatur
siehe auch Stichwort-Register
BRÜLL, D.: «Der anthroposophische Sozialimpuls»
FRÄNKL-LUNDBORG, O.: «Was ist Anthroposophie?»
RÖSCHERT, G.: «Anthroposophie als Aufklärung»
STRAWE, CH.: «Marxismus und Anthroposophie»
WAIS, M.: «Ach Du liebe Anthroposophie»
WEHR, G.: «C.G.Jung und Rudolf Steiner»
WIKIPEDIA: Anthroposophie
https://wfgw.diemorgengab.at/WfGWmbl03.htm