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Zitatensammlung
Teil 2
Zitat von Judith V.HALLE zum
HÖREN von MUSIK
1 Dieses Hören, das echte Hineinlauschen in das Wesen des Stücks, fiel mir leicht. Und ich meine auch heute, dass es grundsätzlich das Wichtigste ist, wenn man Musik wirklich empfinden will. Nicht das Zählenkönnen, nicht das technische Wissen. Wenn man nämlich wirklich hinhört, dann empfindet man die Musik so, wie sie richtig ist, und das Zählen oder vielmehr die rhythmische Präzision ergibt sich dann von selbst. Ich spielte grundsätzlich alles auswendig und vieles Neue auch nach dem Gehör. Das hatte natürlich den gravierenden Nachteil, dass ich ein miserabler «Vom-Blatt-Spieler» wurde, [...] aber ich wurde dafür ein passionierter «Passiv-Musiker» in dem Sinne, dass ich im Hören der Musik aufging, die mir eine völlig neue, unvergleichliche Welt erschloss; eine Welt nämlich, die es ermöglichte, mit der Welt der Wirklichkeit auf eine andere Art in Berührung zu kommen.
2 Dabei ist das echte Hören in Wahrheit ebenfalls ein sehr aktiver Vorgang! Man lässt sich schließlich nicht einfach «berieseln», sondern tritt in eine wechselseitige Beziehung mit dem, was sozusagen hinter der Musik ist. Ich erlebte die Musik - und hier muss ich, um Missverständnissen vorzubeugen, einfügen, dass ich ausschließlich «klassische» Musik hörte - als ein gewissermaßen irdisch wahrnehmbar gemachtes Mitbringsel aus der Welt der Wirklichkeit, aus der Welt der schöpferischen Majestät, in der der weisheitsvolle Welten-Werde-Plan gewoben wird. So war die Musik eine Brücke zwischen der geistigen und der irdischen Welt, eine Brücke, die von beiden Seiten aus begehbar war. Es wirkte ein Hauch von Gottes Atem durch sie hinein in die Welt des Alltagsbewusstseins, süß und trostreich, liebevoll mahnend, erinnernd an die Welt der Wirklichkeit, die das dumpf betäubte Herz wieder lebendig werden und wahrhaftig empfinden, denken ließ; und zugleich ließ sie, die herrliche, klingende Brücke, das Herz hinüberwandern in die Welt der Wirklichkeit, jenes allzu oft wehmütig klagende Herz, das sich so innig nach seiner Heimat sehnte. Mir war, als schaffe die Musik durch die mit physischen Ohren wahrnehmbaren Töne einen Ort auf Erden, an dem die Welt der Wirklichkeit ihr Lager aufschlagen konnte. Zunächst fürchtete ich, es sei dies ein sehr flüchtiges Lager, ein Zelt, das rasch von den launischen Böen der Sinneswelt fortgerissen werden konnte - gab es doch mit dem Verklingen des letzten Tons kein irdisches Verweilen dieses aus der Welt der Wirklichkeit stammenden klingenden Götterboten, und allzu rasch verschluckte die tosende Alltagswelt mit ihren aufdringlichen, lauten Unwichtigkeiten gierig und unerbittlich den gerade noch lebendig gewesenen Zauber. Doch bald erkannte ich, dass das Lager auf festem Grund gebaut war innerhalb der irdischen Welt, wenn die Musik im Herzen und in den Gedanken des Entgegennehmenden wahrhaftige Lebenskräfte geweckt hatte, wenn also die geistige Welt über die Brücke der Musik im Innern des Menschen hatte ankern können. Dann war die Gabe des Götterboten nicht verloren. Sie war in diesem Fall nicht nur von beständiger Dauer, sondern hatte auch bewirkt, dass einem das Leben ohne zwischenmenschlichen Austausch über die wesentlichen Dinge des Seins erleichtert wurde - mehr noch: dass man sogar der Welt etwas abgeben konnte von der erquickenden seelischen Mahlzeit, die einem zuteilgeworden war.
aus «Schwanenflügel»; S.98ff
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit027270098.htm