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Zitatensammlung
Teil 2
Zitat von G.SINOPOLI zum
LABYRINTH
1a Die Hierophanie Venedigs wird durch diese wunderbare Harmonie der Gegensätze bekräftigt, durch das Zusammenleben von Widersprüchen, die auf ein beinahe mystisches Gleichgewicht zurückzuführen sind; besiegelt wird sie vom höchsten Symbol der Doppelspirale [gebildet vom Canal Grande], die sie formt, bestimmt, fixiert und stabilisiert. Das Labyrinth - in seinen Erscheinungsformen in Mesopotamien, in Griechenland, in der römischen Welt ebenso wie in Australien, in Polynesien und in den Regionen Nordeuropas - ist immer auf die Spiralform zurückführbar, sei es in ihrer klareren als auch in ihrer kaum angedeuteten Gestalt. Ich wollte eine Bedeutung des Labyrinths finden, die die beiden antithetischen Elemente Wasser und Erde verbindet.
1b Ich dachte an das Labyrinth als Körper der Terra Mater. Ich kannte die Eigenschaften des Wassers als universaler Schoß, der alle Entwicklungsmöglichkeiten im Urzustand der Ungeformtheit in sich birgt; das Erdlabyrinth symbolisiert den Körper einer tellurischen Göttin.
1c »Wenn Bergwerksstollen und Flußmündungen mit der vagina der Mutter Erde verglichen werden, so gilt die gleiche Symbolik a fortiori für die Grotten und Höhlen»¹°. Höhlen wurden schon seit der Vorgeschichte mit Labyrinthen in Zusammenhang gebracht oder häufig in solche verwandelt.
[...]
1d Ein Höhlenlabyrinth zu betreten bedeutete, mit der Terra Mater und mit den dort ausgedrückten Inhalten von Leben, Tod und Heiligkeit in Beziehung zu treten. Das Labyrinth zu betreten war also auch eine mystische Rückkehr zur Großen Mutter Erde. Dies war vielleicht der Sinn der Ritzzeichnung, die in der Höhle von Vernapheto auf Kreta gefunden wurde und die eine »Herrin der Tiere« darstellt, umgeben von wilden Tieren und Fischen, mit Pfeil und Bogen, nackt und mit erhobenen Händen.
1e In Venedig, in den Labyrinthen zu Land und zu Wasser, versinnbildlichen und verflechten sich also das Bild des aquatischen universellen Schoßes und das der Terra Mater. In den Höhlenlabyrinthen werden nicht nur Initiationsriten und Bestattungsriten zelebriert, sondern es finden auch »Hierogamien« oder heilige Hochzeiten wie die von Dido und Aeneas, Thetis und Peleus, Medea und Jason statt. Bei all diesen Hierogamien steht das Höhlenlabyrinth für die angestrebte Identifikation der Braut mit der Mutter Erde. So ist die Hierogamie eine Art Nachahmung der kosmischen Vereinigung von Uranus und Gaia, der Erschaffung des Kosmos und des Lebens. Der homerische Hymnus besingt »Gaia! dich Allmutter«: »Heil dir, Weib des gestirnten Uranos! Göttermutter!«¹³
1f Im venezianischen Labyrinth vollzog sich eine andere Hierogamie: die zwischen Venedig und dem Meer. Der Doge warf einen Ring ins Wasser als Symbol der Vereinigung der Stadt mit dem Meer. Auf diese Weise war das Wasser für Venedig Mutter und Braut zugleich.

¹° M.Eliade, Mythen, Träume und Mysterien, Salzburg 1961, S.241.
¹³ An Allmutter Erde, 17, in Homerische Hymnen, griechisch und deutsch, hg. v. Anton Weiher, München 1951, S.129f.
aus «Parsifal in Venedig»; S.23ff
2 Hast du Bajä gesehn, so kennst du das Meer und die Fische.
Hier ist Venedig; du kennst nun auch den Pfuhl und den Frosch.
Johann Wolfgang v.Goethe
aus «Werke Band 1»; S.122
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit026230023.htm