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Zitatensammlung
Teil 2
Zitat von Günter RÖSCHERT zu
INSPIRATION und INTERPRETATION
1 Die Wissenschaft Spinozas und Lessings, der kritische Geist der Aufklärung überhaupt, treibt den versteckten Materialismus aus dem Bibelglauben an das Tageslicht und macht ihn unschädlich. Das mittelalterliche Christentum hatte Wohnung in den Gefühls- und Empfindungstiefen der Seele genommen. Dabei waren Wundergeschichten aller Art und eine heterogene Gebotsethik entstanden. Von einer Wiedererweckung des spirituellen Gehalts der Offenbarung, vor einer Erneuerung der theologischen Dogmatik unter neuen Zeitverhältnissen bedurfte es des Exorzismus durch die historisch-kritische Forschung. Diese ist - allein für sich genommen - geistig unproduktiv, aber sie macht die Verdinglichung und Entwirklichung des Geistes durch die zur Ideologie gewordene Lehre von der Verbalinspiration grundsätzlich unmöglich. Es hat symptomatischen Charakter, daß wenige Jahre nach den Auseinandersetzungen um die Fragmente des Ungenannten [zur Schlüssigkeit der biblischen Texte] Lessing das dramatische Gedicht Nathan der Weise schuf, das großartige geisterfüllte Zeugnis von Toleranz, Humanität und Weltoffenheit der deutschen Aufklärung. Das ökumenische Christentum des Nathan steht turmhoch über dem Buchstabenchristentum der institutionalisierten Religion.
2 Das Prinzip der Verbalinspiration wird im christlichen Raum in seiner strengen Form heute nur mehr von bestimmten evangelikalen Kreisen, im Judentum von orthodoxen Gruppen und unangefochten im Islam vertreten. Angesichts der Fragen der Schriftentstehung, des Problems der Lesarten und der begriffsgeschichtlichen Veränderungen ist der kritischen Prüfung aber nicht zu entkommen. Die Mehrdeutigkeiten des Schriftwortes fordern gebieterisch exegetische Arbeit. Interpretationsmühe ist mit der Buchwerdung des Gotteswortes unmittelbar aufgegeben. Deshalb ist Interpretation nicht etwa nachrangiges, pedantisches Erläuternwollen, wo das Gotteswort deutlich genug sich ausspricht, das Geschäft zerstreuter Philologen, sondern eigenständige schöpferische Leistung, die das lebendige Wasser des Geistes aus dem erstarrten Schriftgestein zu schlagen berufen ist.
3 Auch in der Gegenwart sind Schriftwerke aus lebendiger Geistberührung entstanden, unter ihnen die philosophischen und anthroposophischen Werke Rudolf Steiners. Es bedarf keiner näheren Begründung, daß auch die Schriften Steiners nicht nach dem Prinzip der Verbalinspiration zu erforschen sind, sondern in ernster Interpretationsarbeit unter Einschluß anerkannter hermeutischer Regeln. Hermeneutik ist die Kunst der Auslegung. Durch Auslegung (Interpretation) soll sich der eigenartige, umfassende Sinn von Textdokumenten ergeben. Alle Umstände, die die Entstehung und den Motivhintergrund eines Textes betreffen, sind dabei zu berücksichtigen.¹⁷
4 Sowohl der Natur- wie der Geistesforscher sucht nach genuiner Erfahrung, sei es durch Wahrnehmungen, sei es durch neue begriffliche Zusammenhänge. Werden Forschungsergebnisse mitgeteilt, so schiebt sich zwischen den Leser und die mitgeteilten Inhalte das aufgeschriebene oder das gesprochene Wort. Das Wort verbindet, aber es trennt auch; das Wort ist eine eigene Welttatsache, die der schöpferischen Zuwendung durch den kritischen Geist des Lesers bedarf. Vor der Übernahme irgendeiner Überzeugung von einem Sachzusammenhang steht die Mühe um den Sinn des Wortes. Das Studium der anthroposophischen Geisteswissenschaft hat daher in erster Linie die Schriftwerke Steiners und erst dann die mitgeteilten geistigen Tatsachen zum Gegenstand. Die Geschichte der Erforschung der Offenbarungsschriften und der esoterischen Literatur zeigt, daß Intensität und Ergiebigkeit der Interpretationsarbeit eine Funktion der Inspirationshöhe der bearbeiteten Schrift sind.
S.80f
17) Selbstverständlich ist keine Gleichsetzung von Steiners Schriften mit dem Alten und dem Neuen Testament beabsichtigt. Als inspiriert und offenbarend sind aber auch die Werke der großen Mystiker, eines Meister Eckhart und Jakob Böhme anzuerkennen, die ebenfalls der Interpretation bedürfen. Steiners Werk gehört zur mystischen und theosophischen Weltliteratur, in der sich das fortdauernde Offenbarungswirken der geistigen Welt dokumentiert.
S.84f
aus «Anthroposophie als Aufklärung»
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit010580080.htm