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Vortragssammlung
Teil 1
oser la rose
Vortrag von Rudolf STEINER
DAS ROSENKREUZERISCHE CHRISTENTUM I
gehalten in Neuchâtel, am 27.Sep.1911 ☿ °¹
1 Es erfüllt mich mit tiefer Befriedigung, zum ersten Male hier zu sein in diesem neugegründeten Zweige, welcher den hohen Namen «Christian Rosenkreutz»°² trägt, wodurch es mir möglich ist, zum ersten Male genauer über Christian Rosenkreutz zu sprechen. Worin besteht das Mysterium des Christian Rosenkreutz? An einem Abend kann nicht alles über diese Persönlichkeit gesagt werden, und so werden wir heute über Christian Rosenkreutz selber, morgen Abend aber über sein Werk sprechen.
2 Über Christian Rosenkreutz zu sprechen, setzt voraus ein großes Vertrauen in die Mysterien des geistigen Lebens, ein Vertrauen nicht nur in die Person, sondern in die großen Geheimnisse des spirituellen Lebens. Einen neuen Zweig zu gründen, setzt aber auch immer einen Glauben an das geistige Leben voraus.
3 Christian Rosenkreutz ist eine Individualität, welche wirkt sowohl wenn sie inkarniert ist, als auch wenn sie nicht im physischen Leibe verkörpert ist; sie wirkt nicht nur als physische Wesenheit und durch physische Kräfte, sondern vor allem geistig durch höhere Kräfte.
4 Wie wir wissen, lebt der Mensch nicht nur für sich, sondern im Zusammenhang mit der großen Menschheitsentwickelung. Wenn der gewöhnliche Mensch durch den Tod geht, löst sich sein Ätherleib im Weltenall auf. Aber von dem sich auflösenden Ätherleib bleibt immer ein Teil erhalten, und so sind wir durchweg umgeben von Resten der Ätherleiber Verstorbener, zu unserem Heil oder auch zu unserem Schaden. Sie wirken auf uns in gutem oder bösem Sinne, je nachdem wir selbst gut oder böse sind. Umfassende Wirkungen gehen von den Ätherleibern großer Individualitäten in diesem Sinne auf uns aus. So geht vom Ätherleibe des Christian Rosenkreutz eine große Kraft aus, die auf unsere Seele und auf unsern Geist einwirken kann. Es ist unsere Aufgabe, diese Kräfte kennen zu lernen. Und an diese Kräfte appellieren wir als Rosenkreuzer.
5 Im engeren Sinne nahm die rosenkreuzerische Bewegung im dreizehnten Jahrhundert ihren Anfang. Damals wirkten diese Kräfte ungemein stark, und seit diesem Zeitpunkt besteht eine Christian Rosenkreutz-Strömung, die fortan im Geistesleben immer weiter wirkt. Es gibt ein Gesetz, daß etwa alle hundert Jahre dieser geistige Kraftstrom besonders wirksam zum Ausdruck kommen muß. Das zeigt sich jetzt in der theosophischen Bewegung. In seinen letzten exoterischen Ausführungen hat Christian Rosenkreutz dieses selbst so angedeutet.°³
6 Im Jahre 1785 kamen die gesammelten esoterischen Offenbarungen der Rosenkreuzer zum Ausdruck in dem Werk: «Die geheimen Figuren der Rosenkreuzer»°⁴ von Hinricus Madathanus Theosophus°⁵. In dieser Publikation sind in einem gewissen beschränkten Sinne Hinweise enthalten auf das, was gewirkt hatte in den vorangegangenen hundert Jahren als Rosenkreuzerströmung und was erst dann zum Ausdruck kam in den Arbeiten, die gesammelt waren und zusammengefaßt wurden von Hinricus Madathanus Theosophus. Wieder hundert Jahre später sehen wir die Wirkung der Rosenkreuzerströmung zum Ausdruck kommen in dem Werke der H. P. Blavatsky, insbesondere in dem Buche: «Die entschleierte Isis». Manches von dem Inhalt jener Figuren ist dort in Worten niedergeschrieben. Eine Summe von abendländischer okkulter Weisheit, die noch lange nicht gehoben ist, ist darin enthalten, wenn auch die Komposition manchmal recht verworren ist. Es ist interessant, «Die geheimen Figuren der Rosenkreuzer» des Hinricus Madathanus Theosophus zu vergleichen mit dem Werke der H. P. Blavatsky. Wir müssen hauptsächlich die erste Hälfte der Publikation ins Auge fassen, die im Sinne der «Figuren» verfaßt ist. Im zweiten Teil kommt Blavatsky etwas ab von der Rosenkreuzerströmung. In ihren späteren Werken entfernte sich H. P. Blavatsky von diesem rosenkreuzerischen Geistesstrom, und wir müssen zwischen ihren ersten und den späteren Publikationen zu unterscheiden wissen, wenn zwar auch schon in die ersteren manches von dem unkritischen Geist H. P. Blavatskys hineingekommen ist. Daß dieses gesagt wird, ist der jetzt nicht verkörperten H. P. Blavatsky nur erwünscht.
7 Wenn wir die Eigentümlichkeit des menschlichen Bewußtseins im dreizehnten Jahrhundert ins Auge fassen, so sehen wir, daß das primitive Hellsehen allmählich verschwunden war. Wir wissen, daß alle Menschen früher ein elementares Hellsehen hatten. In der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts gab es in dieser Hinsicht einen Tiefpunkt. In der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts war plötzlich kein Hellsehen mehr da. Es trat für alle Menschen eine geistige Finsternis ein. Sogar die erleuchtetsten Geister, die höchstentwickelten Persönlichkeiten, auch die Eingeweihten, hatten damals keinen Zugang mehr zu den geistigen Welten und mußten sich auf das beschränken, was ihnen durch Erinnerung geblieben war, wenn sie etwas über die geistigen Welten aussagten. Man wußte über die geistigen Welten nur noch durch Überlieferung oder von solchen Eingeweihten, die ihre Erinnerung an das, was sie früher erlebt hatten, weckten. Aber für eine kurze Zeit konnten auch diese Geister nicht unmittelbar hineinblicken in die geistige Welt.
8 Diese kurze Zeit der Verfinsterung mußte damals sein, um das Charakteristische unseres jetzigen Zeitalters vorzubereiten: die heutige intellektuelle, verstandesmäßige Kultur. Das ist das Wichtige, das wir heute in der fünften nachatlantischen Kulturepoche haben. In der griechisch-lateinischen Kulturepoche war die heutige Verstandeskultur nicht in dieser Weise da. Da war an Stelle des verstandesmäßigen Denkens die unmittelbare Anschauung das Dominierende. Der Mensch wuchs sozusagen unmittelbar zusammen mit dem, was er sah und hörte; ja, auch mit dem, was er dachte, wuchs der Mensch damals so zusammen. Damals wurde nicht so viel spintisiert, wie es heute geschieht und geschehen muß, denn das letztere ist die Aufgabe der fünften nachatlantischen Kulturepoche. Nach dieser Zeit beginnt langsam wieder das Hellsehen des Menschen, und es kann sich dann das Hellsehen der Zukunft ausbilden.
9 Der Ursprung der Rosenkreuzerströmung fällt in das dreizehnte Jahrhundert. Damals, im dreizehnten Jahrhundert, mußten ganz besonders geeignete Persönlichkeiten für die Einweihung ausgewählt werden. Die Einweihung selbst konnte erst geschehen nach Ablauf jener kurzen Zeit der Verfinsterung.
10 An einem Orte in Europa von dem noch nicht gesprochen werden darf - aber es wird in nicht ferner Zeit auch dies geschehen können°⁶ -, bildete sich eine hochgeistige Loge, ein Kollegium von zwölf Männern, welche die ganze Summe der geistigen Weisheit alter Zeiten und ihrer eigenen Zeit in sich aufgenommen hatten. Es handelt sich darum, daß in jener verfinsterten Zeit zwölf Menschen lebten, zwölf hervorragende Geister, die sich vereinigten, um den Menschheitsfortschritt zu fördern. Sie konnten alle nicht unmittelbar hineinschauen in die geistige Welt, aber sie konnten regsam machen in sich die Erinnerung an das, was sie durch frühere Einweihung erlebt hatten. Und das Menschheitskarma hatte es so gefügt, daß in sieben dieser zwölf Menschen dasjenige verkörpert war, was der Menschheit geblieben war an Resten der alten atlantischen Epoche. In meiner «Geheimwissenschaft» ist ja schon gesagt, daß in den sieben alten heiligen Rishis, den Lehrern der urindischen Kulturzeit, hinübergetragen wurde das, was von der atlantischen Epoche übrig geblieben war. Die sieben Männer, die im dreizehnten Jahrhundert wieder inkarniert waren, die ein Teil des Kollegiums der Zwölf waren, das waren eben diejenigen, die zurückblicken konnten auf die sieben Strömungen der alten atlantischen Entwickelungsepoche der Menschheit und auf das, was als diese sieben Strömungen fortlebte. Von diesen sieben Individualitäten konnte jede immer nur eine Strömung fruchtbar machen für die damalige und die heutige Zeit. Zu diesen Sieben kamen vier andere, die nicht auf längst verflossene Urzeiten zurückblicken konnten wie die erstgenannten sieben Weisen, sondern diese vier Persönlichkeiten konnten zurückblicken auf das, was die Menschheit sich angeeignet hatte von okkulter Weisheit in den vier nachatlantischen Kulturperioden. Von diesen Vier konnte der erste auf die urindische Zeit zurückblicken, der zweite auf die urpersische Kulturzeit, der dritte auf die ägyptisch-chaldäisch-assyrisch-babylonische Kulturzeit, der vierte auf die griechisch-lateinische Kultur. Diese Vier vereinigten sich mit den Sieben zu dem Kollegium der weisen Männer im dreizehnten Jahrhundert. Ein Zwölfter endlich hatte gewissermaßen am wenigsten an Erinnerungen, aber er war der Intellektuellste von ihnen, der besonders die äußeren Wissenschaften zu pflegen hatte. Diese zwölf Individualitäten lebten ja nicht nur in den Erlebnissen des abendländischen Okkultismus, diese zwölf verschiedenen Weisheitsströmungen wirkten zusammen zu einem Gesamtbilde. Eine ganz besondere Art, darauf hinzuweisen, finden wir bei Goethe in seinem Gedicht: «Die Geheimnisse»°⁷.
11 Also von zwölf hervorragenden Individualitäten haben wir zu sprechen. Den Ausgangspunkt einer neuen Kultur haben wir in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts zu suchen. In dieser Zeit war ein gewisser Tiefpunkt des geistigen Lebens erreicht worden. Der Zugang zu den geistigen Welten war damals auch den Höchstentwickelten verschlossen. Damals trat dieses hochgeistige Kollegium zusammen. An einem Orte in Europa, von dem noch nicht geredet werden darf, fanden sich diese zwölf Männer zusammen, welche die Summe des ganzen geistigen Wissens ihrer Zeit darstellten und die zwölf Geistesrichtungen vertraten.
12 In diesem Kollegium der Zwölf war zum Teil nur Erinnerungshellsehen und intellektuelle Weisheit vorhanden. Die sieben Nachfolger der sieben Rishis erinnerten sich ihrer alten Weisheit, die fünf andern vertraten die Weisheit der fünf nachatlantischen Kulturen. Somit vertraten die Zwölf die ganze atlantische und nachatlantische Weisheit. Der Zwölfte war ein Mensch, der im höchsten Maße die intellektuelle Weisheit seiner Zeit hatte. Er besaß verstandesmäßig das ganze Wissen seiner Zeit, während die anderen, denen direktes Geistesschauen damals auch versagt war, durch Versenken in die Erinnerungen an ihre früheren Inkarnationen ihr Wissen damals erlangten.
13 Der Ausgangspunkt einer neuen Kultur war aber nur dadurch möglich, daß ein Dreizehnter in die Mitte der Zwölf trat. Dieser Dreizehnte wurde kein Gelehrter im Sinne der damaligen Zeit. Er war eine Individualität, die inkarniert gewesen war zur Zeit des Mysteriums von Golgatha. Er hatte in darauffolgenden Inkarnationen durch ein demütiges Gemüt, durch ein inbrünstiges, gottergebenes Leben sich für seine Mission vorbereitet. Er war eine große Seele, ein frommer, innerlich tief mystischer Mensch, der mit diesen Eigenschaften geboren wurde und sie sich nicht nur erworben hatte. Wenn Sie sich einen jungen Menschen vorstellen, sehr fromm, fortwährend inbrünstig zu seinem Gott betend, so können Sie sich ein Bild der Individualität dieses Dreizehnten vor Augen stellen. Dieser Dreizehnte wuchs ganz und gar auf in der Pflege und Erziehung der Zwölf, und er erhielt von jedem an Weisheit, soviel ihm jeder nur geben konnte. Mit der größten Sorgfalt wurde dieser Dreizehnte erzogen, und es wurden alle Einrichtungen so getroffen, daß niemand als diese Zwölf einen Einfluß auf ihn ausüben konnten. Er wurde von der übrigen Welt abgesondert. Er war ein sehr schwächliches Kind in jener Inkarnation des dreizehnten Jahrhunderts, daher wirkte die Erziehung, die ihm die Zwölf angedeihen ließen, bis in seinen physischen Leib hinein. Die Zwölf aber, von denen jeder so durchdrungen und erfüllt von seiner geistigen Aufgabe war und tief durchdrungen vom Christentum, waren sich bewußt, daß das äußere Christentum der Kirche nur ein Zerrbild des wahren Christentums war. Sie waren erfüllt von der Größe des Christentums, galten aber äußerlich als Feinde desselben. Jeder einzelne arbeitete sich nur in einen Teil des Christentums hinein. Ihr Bestreben war, die verschiedenen Religionen in einer großen Einheit zu vereinigen. Sie waren überzeugt, daß in ihren zwölf Strömungen alles geistige Leben enthalten war, und jeder wirkte nach seinen Kräften auf den Schüler ein. Sie hatten als Ziel, eine Synthesis aller Religionen zu erlangen, waren sich aber bewußt, daß dieses Ziel nicht durch irgendeine Theorie, sondern durch die Auswirkung des geistigen Lebens zu erreichen war. Und dazu war eine entsprechende Erziehung des Dreizehnten notwendig.
14 Während die geistigen Kräfte dieses Dreizehnten ins Unendliche zunahmen, gingen seine physischen Kräfte ganz zurück. Es kam so weit, daß fast aller Zusammenhang mit dem äußeren Leben aufhörte, alles Interesse für die physische Welt verschwand. Er lebte nur für die geistige Entwickelung, wozu er von den Zwölf die Anregung erhielt. In ihm war ein Reflex der Weisheit der Zwölf. Es kam so weit, daß der Dreizehnte alle Nahrung verweigerte und dahinsiechte. Da trat ein Ereignis ein, das nur einmal in der Geschichte eintreten konnte. Es war eines der Ereignisse, die dann eintreten können, wenn die makrokosmischen Kräfte - der Früchte wegen, die ein solches Ereignis zeitigen soll - zusammenwirken. Nach einigen Tagen wurde der Körper dieses Dreizehnten ganz durchsichtig, und er war wie tot durch Tage hindurch. Um ihn herum versammelten sich nun die Zwölf in bestimmten Zeiträumen. Es entströmte ihrem Mund alles Wissen und alle Weisheit in diesen Momenten. In kurzen Formeln, die wie Andachtsgebete waren, ließen sie dem Dreizehnten ihre Weisheit zuströmen, während der Dreizehnte wie tot dalag. Man kann sich am besten die Zwölf in einem Kreis um den Dreizehnten herum vorstellen. Dieser Zustand endete damit, daß die Seele dieses Dreizehnten erwachte wie eine neue Seele. Eine große Umwandlung seiner Seele hatte er erlebt. Es war in ihr etwas vorhanden wie eine ganz neue Geburt der zwölf Weisheiten, so daß auch die zwölf Weisen etwas ganz Neues lernen konnten von dem Jüngling. Aber auch dessen Körper wurde dadurch in einer solchen Weise belebt, daß diese Belebung des ganz durchsichtigen Körpers mit nichts verglichen werden kann. Der Jüngling konnte nun von ganz neuen Erlebnissen sprechen. Die Zwölf konnten erkennen, daß er das Erlebnis von Damaskus hinter sich hatte: es war eine Wiederholung der Vision des Paulus vor Damaskus. Im Verlauf weniger Wochen gab nun der Dreizehnte alle Weisheit wieder, die er von den Zwölfen erhalten hatte, aber in einer neuen Form. Wie von Christus selbst gegeben war diese neue Form. Was er ihnen da offenbarte, das nannten die Zwölf das wahre Christentum, die Synthesis aller Religionen, und sie unterschieden zwischen diesem wahren Christentum und dem Christentum der Epoche, in der sie lebten. Dieser Dreizehnte starb verhältnismäßig jung, und die Zwölf widmeten sich dann der Aufgabe, in Imaginationen - denn nur so konnte es geschehen - aufzuzeichnen, was der Dreizehnte ihnen geoffenbart hatte. So entstanden die symbolischen Figuren und Bilder, die in der Sammlung des Hinricus Madathanus Theosophus enthalten sind, und die Mitteilungen der H. P. Blavatsky in dem Werke: «Die entschleierte Isis ». Der okkulte Vorgang muß so vorgestellt werden, daß sich die Frucht der Einweihung des Dreizehnten als dessen Ätherleib-Rest innerhalb der Geist-Atmosphäre der Erde erhalten hat. Dieser Rest wirkte auf die Zwölf ebenso wie auf ihre folgenden Schüler inspirierend, so daß aus ihnen hervorgehen konnte die rosenkreuzerische okkulte Strömung. Aber dieser Ätherleib wirkte weiter fort, und er durchdrang dann den Ätherleib des sich wieder inkarnierenden Dreizehnten.
15 Schon im vierzehnten Jahrhundert wurde die Individualität des Dreizehnten wiederverkörpert, ungefähr in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts. In dieser Inkarnation lebte diese Individualität mehr als hundert Jahre. Er wurde auf ähnliche Weise im Kreise der Schüler und Nachfolger der Zwölf erzogen, aber nicht so weltfremd wie in seiner vorhergehenden Inkarnation. Als er achtundzwanzig Jahre alt war, bekam er ein merkwürdiges Ideal. Er mußte reisen und aus Europa fortziehen. Zuerst ging er nach Damaskus, und dort wiederholte sich noch einmal für ihn das Ereignis, das Paulus dort erlebt hatte. Dieses Erlebnis ist als die Frucht eines Keimes der vorigen Inkarnation zu bezeichnen. Alle Kräfte des wunderbaren Ätherleibes der Individualität des dreizehnten Jahrhunderts waren intakt geblieben, und nichts ging nach dem Tode in den allgemeinen Weltenäther über. Dieses war ein bleibender Ätherleib, der seither intakt blieb in den Äthersphären. Dieser selbe feingeistige Ätherleib durchleuchtete und durchstrahlte wieder von der geistigen Welt aus die neue Verkörperung, die Individualität im vierzehnten Jahrhundert. Daher wurde er getrieben, das Ereignis von Damaskus noch einmal zu erleben. Es ist dies die Individualität des Christian Rosenkreutz. Er war der Dreizehnte im Kreise der Zwölf. Von dieser Inkarnation an wurde er so genannt. Esoterisch, im okkulten Sinne, ist er Christian Rosenkreutz schon im dreizehnten Jahrhundert, exoterisch wird er erst im vierzehnten Jahrhundert so genannt. Und die Schüler dieses Dreizehnten sind die Nachfolger der andern Zwölf im dreizehnten Jahrhundert. Das sind die Rosenkreuzer.
16 Christian Rosenkreutz reiste damals durch die ganze bekannte Welt. Nachdem er die gesamte Weisheit der Zwölf eingeflößt bekommen hatte, befruchtet durch die große Wesenheit des Christus, wurde es ihm leicht, im Laufe von sieben Jahren die gesamte Weisheit der damaligen Zeit in sich aufzunehmen. Als er dann nach sieben Jahren nach Europa zurückkehrte, nahm er die entwickeltsten Schüler und Nachfolger der Zwölf zu Schülern an und begann dann die eigentliche Arbeit der Rosenkreuzer.
17 Eine ganz neue Weltbetrachtung konnte man beginnen, dank den Ausstrahlungen des wunderbaren Ätherleibes des Christian Rosenkreutz. Was nun bis zu unserer Zeit von den Rosenkreuzern gearbeitet wurde, ist äußere und innere Arbeit. Die äußere Arbeit hatte den Zweck, das, was hinter der Maja der Materie liegt, zu ergründen. Man wollte die Maja der Materie untersuchen. Dem gesamten Makrokosmos liegt ebenso ein Äther-Makrokosmos, ein Ätherleib zugrunde, wie der Mensch einen Ätherleib hat. Es gibt einen gewissen Grenzübergang von der gröberen zur feineren Substanz. Richten wir unsern Blick auf die Grenze zwischen physischer und ätherischer Substanz. Dem, was zwischen der physischen und der ätherischen Substanz liegt, ist nichts anderes auf der Welt ähnlich. Es ist weder Gold noch Silber, noch Blei, noch Kupfer. Da haben wir etwas, was nicht mit irgendeiner anderen physischen Substanz vergleichbar wäre, sondern es ist die Essenz von allem. Wir haben da eine Substanz, die in allen anderen physischen Substanzen enthalten ist, so daß die anderen physischen Substanzen als Modifikationen dieser einen Substanz betrachtet werden können. Diese Substanz hellseherisch anzuschauen, war das Bestreben der Rosenkreuzer. Sie sahen die Vorbereitung, die Ausbildung eines solchen Schauens in einer erhöhten Wirksamkeit der moralischen Kräfte der Seele, die dann diese Substanz sichtbar machte. In den moralischen Kräften der Seele erblickten sie die Kraft zu diesem Schauen. Diese Substanz ist von den Rosenkreuzern wirklich geschaut und entdeckt worden. Sie fanden, daß diese Substanz in einer bestimmten Form in der Welt lebt, im Makrokosmos sowie auch im Menschen. Draußen in der Welt, außerhalb des Menschen, verehrten sie sie als das große Gewand, als das Kleid des Makrokosmos. Im Menschen sahen sie sie entstehen, wenn eine harmonische Wechselwirkung zwischen Denken und Wollen vorhanden ist. Sie sahen die Kräfte des Wollens nicht nur im Menschen, sondern auch im Makrokosmos, zum Beispiel im Donner und Blitz. So sahen sie auch die Kräfte des Denkens einerseits in dem Menschen und dann draußen in der Welt, in dem Regenbogen, in der Morgenröte. Die Kraft, solche Harmonie zwischen Wollen und Denken zu erreichen in der eigenen Seele, suchten die Rosenkreuzer in den Ausstrahlungen dieses Ätherleibes des Dreizehnten, des Christian Rosenkreutz.
18 Es wurde festgesetzt, daß alle Entdeckungen, die sie machten, hundert Jahre lang als Geheimnis bei den Rosenkreuzern bleiben müßten und daß erst dann, nach hundert Jahren, diese Rosenkreuzer-Offenbarungen der Welt gebracht werden dürften. Erst nachdem hundert Jahre darüber gearbeitet worden war, durfte in entsprechender Weise darüber gesprochen werden. So wurde vom siebzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert vorbereitet, was 1785 in dem Werk «Die geheimen Figuren der Rosenkreuzer» zum Ausdruck kam.
19 Nun ist es auch von großer Bedeutung, zu wissen, daß in jedem Jahrhundert die rosenkreuzerische Inspiration so gegeben wird, daß niemals der Träger der Inspiration äußerlich bezeichnet wurde. Nur die höchsten Eingeweihten wußten es. Heute kann zum Beispiel äußerlich nur von solchen Geschehnissen gesprochen werden, welche hundert Jahre zurückliegen, denn das ist die Zeit, welche jeweils verflossen sein muß, bevor davon äußerlich gesprochen werden darf. Die Versuchung ist zu groß für die Menschen, einer solchen ins Persönliche gezogenen Autorität - was das Schlimmste ist, was es gibt - fanatische Heiligenverehrung entgegenzubringen. Es liegt dies eben zu nahe. Es ist diese Verschwiegenheit aber nicht nur eine Notwendigkeit gegen die äußeren Anfechtungen des Ehrgeizes und des Hochmutes, deren man sich ja vielleicht noch erwehren könnte, sondern auch vor allem gegen die okkulten astralen Attacken, die fortwährend auf eine solche Individualität gerichtet sein würden. Deshalb ist die Bedingung, daß erst hundert Jahre nach einem solchen Faktum davon gesprochen werden darf, eine notwendige.
20 Infolge der Rosenkreuzerarbeit wurde der Ätherleib des Christian Rosenkreutz von Jahrhundert zu Jahrhundert immer kräftiger und immer mächtiger. Er wirkte nicht nur durch Christian Rosenkreutz, sondern auch durch alle, die seine Schüler wurden. Seit dem vierzehnten Jahrhundert ist Christian Rosenkreutz immer wieder inkarniert gewesen. Alles, was als Theosophie verkündet wird, wird vom Ätherleib des Christian Rosenkreutz gestärkt, und diejenigen, die Theosophie verkündigen, lassen sich überschatten von diesem Ätherleib, der auf sie wirken kann, sowohl wenn Christian Rosenkreutz inkarniert ist, als auch dann, wenn er nicht inkarniert ist.
21 Der Graf von Saint-Germain ist im achtzehnten Jahrhundert die exoterische Wiederverkörperung von Christian Rosenkreutz gewesen.°⁸ Nur wurde dieser Name auch andern Personen beigelegt, so daß nicht alles, was in der äußeren Welt da oder dort über den Grafen von Saint-Germain gesagt wird, auch für den wirklichen Christian Rosenkreutz gelten kann. Heute ist Christian Rosenkreutz wiederverkörpert. Von den Ausstrahlungen seines Ätherleibes ging die Inspiration aus für das Werk der H. P. Blavatsky «Die entschleierte Isis». Es war auch der Einfluß des Christian Rosenkreutz, der unsichtbar auf Lessing gewirkt hat und der ihn zu der Schrift über «Die Erziehung des Menschengeschlechts» (1780) inspirierte. Infolge der steigenden Flut des Materialismus wurde es immer schwerer, im Sinne des Rosenkreuzertums zu inspirieren. Im neunzehnten Jahrhundert kam dann die Hochflut des Materialismus. So konnte vieles nur in sehr gebrochenen Strahlen gegeben werden. 1851 wurde von Widenmann°⁹ das Problem der Unsterblichkeit der Seele im Sinne der Reinkarnation gelöst. Seine Schrift wurde preisgekrönt. Schon gegen 1850 schrieb Droßbach°⁹ vom psychologischen Standpunkt aus im Sinne der Reinkarnation.
22 So haben auch im neunzehnten Jahrhundert die Ausstrahlungen des Ätherleibes des Christian Rosenkreutz fortgewirkt. Und eine Erneuerung des theosophischen Lebens konnte auftreten, weil das kleine Kali Yuga abgelaufen war im Jahre 1899. Deshalb ist der Zugang zur geistigen Welt heute leichter und die geistige Wirkung in einem viel größeren Maße möglich. Die Hingabe an den mächtig gewordenen Ätherleib des Christian Rosenkreutz wird den Menschen das neue Hellsehen bringen können und wird hohe spirituelle Kräfte zutage fördern. Aber das wird nur für diejenigen Menschen möglich sein, die richtig die Schulung des Christian Rosenkreutz befolgen. Bis jetzt war esoterische rosenkreuzerische Vorbereitung dazu notwendig. Das zwanzigste Jahrhundert hat aber die Mission, diesen Ätherleib so mächtig werden zu lassen, daß er auch exoterisch wirken wird. Die davon ergriffen werden, dürfen das Ereignis erleben, das Paulus vor Damaskus erlebte. Es hat dieser Ätherleib bis jetzt nur eingewirkt in die Rosenkreuzerschule; im zwanzigsten Jahrhundert wird es immer mehr und mehr Menschen geben, die diese Wirkung erfahren können und dadurch die Erscheinung des Christus im Ätherleib werden erleben dürfen. Die Arbeit der Rosenkreuzer ist es, die es möglich macht, die Äther-Erscheinung des Christus zu haben. Die Zahl derjenigen, die fähig sein werden, sie zu schauen, wird immer größer und größer werden. Wir müssen diese Wiedererscheinung zurückführen auf das große Ereignis der Arbeit der Zwölf und des Dreizehnten im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert.
23 Wenn Sie ein Werkzeug des Christian Rosenkreutz werden sein können, dann können Sie versichert sein, daß Ihre kleinste Seelenarbeit für die Ewigkeit da sein wird.
24 Morgen werden wir auf das Werk des Christian Rosenkreutz zu sprechen kommen. Ein unbestimmter Trieb zur Geisteswissenschaft durchströmt heute die Menschheit. Und wir können sicher sein, überall da, wo Rosenkreuzerschüler ernst und gewissenhaft vorwärts streben, werden Werte für die Ewigkeit geschaffen. Jede kleinste geistige Arbeit bringt uns höher. Notwendig ist es, Verständnis und Verehrung der heiligen Sache entgegenzubringen.
S.57ff
°¹ Zum Vortrag Neuchätel, 27. September 1911: Gegenüber der gedruckten weist eine andere vorliegende Mitschrift Textvarianten auf. Siehe nach den Hinweisen.
°² Christian Rosenkreutz: Eine von der äußeren Geschichte nicht als historisch angesehene Persönlichkeit des 14. Jahrhunderts, legendär bekannt aus zwei anonymen Rosenkreuzerschriften «Fama Fraternitatis oder Entdeckung der Brüderschaft des Hochlöblichen Ordens des R-C», Kassel 1614 und «Confessio Fraternitatis oder Bekandtnus der löblichen Bruderschaft des hochgeehrten Rosen Creutzes», Kassel 1615, und nach diesen ein Deutscher adeliger Abkunft, der von 1378 bis 1484 lebte. Der Name tritt zuerst auf in der 1604 verfaßten und handschriftlich verbreiteten, 1616 in Straßburg anonym erschienenen Schrift «Chymische Hochzeit: Christiani Rosencreutz. Anno 1459», deren Verfasser Johann Valentin Andreae als Inspirationsträger des Christian Rosenkreutz war. Siehe Rudolf Steiner «Die chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz», Aufsatz für die Zeitschrift «Das Reich», München 1917/18. Innerhalb der Gesamtausgabe in «Philosophie und Anthroposophie », Gesammelte Aufsätze 1904-1918, GA 35. Ferner in Johann Valentin Andreae «Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreuz», übertragen von Walter Weber, Stuttgart 1957, Basel 1978.
°³ In seinen leiteten exoterischen Ausführungen hat Christian Rosenkreutz dieses selbst so angedeutet: Rudolf Steiner bezieht sich hier, ebenso wie schon in einem früheren Vortrag (Berlin 16. Dezember 1904, in GA 93), offensichtlich auf einen in der Literatur überlieferten Ausspruch des Grafen Saint-Germain (siehe Hinweis zu Seite 67), wonach er in Wien im Jahre 1790 geäußert habe: «Ich werde gegen das Ende des Jahrhunderts aus Europa verschwinden und mich in die Regionen des Himalaja begeben. Ich werde mich ausruhen, ich muß ruhen. Man wird mich in 85 Jahren Tag für Tag sehen.» (Zitiert nach Isabella Cooper-Oakley in der Zeitschrift «Gnosis» I. Jg. Nr. 20 vom 15. 12. 1903.) Im Jahre 1875, also genau 85 Jahre nach diesem Ausspruch, wurde die Theosophical Society begründet.
°⁴ «Die geheimen Figuren der Rosenkreuzer»: «Geheime Figuren der Rosenkreuzer aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert», 3 Hefte, Altona 1785—88 (anonym). Heft I enthält eine Abhandlung von Hinricus Madathanus Theosophus: «Aureum Seculum Redivivum», die schon 1621 erschienen war.
°⁵ Hinricus Madathanus Theosophus: Anagrammatisches Pseudonym des Paracelsisten Hadrianus a Munsicht (Adrian von Mynsicht. Mynsicht ist wiederum ein Anagramm des eigentlichen Familiennamens Symnicht, ursprünglich Seumenicht, eines Alchimisten), der das Verdienst hat, zuerst den Brechweinstein (Kalimantimonyltartrat) dargestellt zu haben. Er war als Sohn eines Pastors im Braunschweigischen geboren und lebte von ca. 1590-1638. Siehe C. S. Picht, Hinricus Madathanus, in «Die Drei», Stuttgart 1927, VII Jg. Heft 4.
°⁶ An einem Orte in Europa, von dem hier noch nicht gesprochen werden darf- aber es wird in nicht ferner Zeit auch dies geschehen können: Dieser Ort wurde auch später nicht genannt.
°⁷ Goethes Gedicht «Die Geheimnisse»: Siehe hierzu Rudolf Steiners Vortrag «Die Geheimnisse. Ein Weihnachts- und Ostergedicht von Goethe», Köln, 25. Dezember 1907 in «Natur- und Geistwesen - ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt», GA 98.
°⁸ Der Graf von Saint-Germain ist im 18. Jahrhundert die exoterische Wiederverkörperung von Christian Rosenkreutz gewesen: Der Zusammenhang dieser beiden Gestalten war in der Theosophischen Gesellschaft schon vor Rudolf Steiner bekannt. Siehe Annie Besants Schrift «Esoterisches Christentum. Oder die Kleineren Mysterien», 1. deutsche Übersetzung Leipzig 1903. Siehe auch Rudolf Steiners Vortrag vom 4. November 1904 in GA 93.
°⁹ Widenmann ... Droßbach: Maximilian Droßbach (1810-1884) schrieb 1849 die Schrift «Wiedergeburt, oder die Lösung der Unsterblichkeitsfrage auf empirischem Wege nach den bekannten Naturgesetzen». Ohne Nennung seines Namens ließ er für die beste Durchführung der in dieser Schrift niedergelegten Gedanken einen Preis von 40 Dukaten in Gold ausschreiben. Dadurch wurde die Abfassung der Schrift von Gustav Widenmann (1812-1876) «Gedanken über die Unsterblichkeit als Wiederholung des Erdenlebens», Wien 1851, veranlaßt, welcher der Preis zufiel. Die kleine Schrift erschien neu zusammen mit einem Aufsatz von C. S. Picht «Das Auftauchen der Reinkarnationsidee bei dem Arzt und Philosophen Gustav Widenmann um 1850» im Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1961.
S.346f
(aus «GA 130»)
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWvtr113000057.htm