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Neudenken:
Gichtels Erfahrung
Gichtel [a] wuchs auf als ein durch und durch religiöser Mensch. Es beunruhigte ihn zutiefst, daß das Lutheranertum - in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts - sich bereits in Äußerlichkeiten, in Wortidolatrie, in Unmenschlichkeit auflöste, die hinter dem Katholizismus, den man gerade in dieser Beziehung hatte reformieren wollen, nicht zurückstanden. So hoffte er inbrünstig auf einen Durchbruch des Lichtes Gottes in den Laien. Mit einem Vorschlag zur ‹Besserung des Christentums› trat er an die lutheranische Geistlichkeit heran. Der Erfolg war, daß man den noch nicht Dreißigjährigen in den Kerker warf, ein Berufsverbot über ihn verhängte und sein Vermögen beschlagnahmte. Die Aussichtslosigkeit trieb ihn in die Verzweiflung, und hätte der Nagel in seiner Zelle gehalten, sein Leben wäre damals mit Selbstmord geendet. In diesem Stadium öffnete sich sein Seelenauge, und er erlebte die Einwohnung Christi, erlebte, daß sich Christus mit seiner Seele verlobte. Wenn er dann zerlumpt und mittellos aus der Stadt auf die beschneiten Straßen vertrieben wird, vollzieht sich das Wunder, das zugleich ein Entschluß ist: Sorge dich nicht, Gott sorgt für dich![b] An Wirtshäusern und Höfen auf seinem Weg rüttelt er mit Worten, die aus einem verchristlichten Herzen kamen, die Leute wach. Er wurde, ohne je zu betteln, gekleidet und genährt. Wenn er dann einige Jahre später in Amsterdam Unterkunft findet, wird ihm ein zweites Geschenk zuteil. Die Jungfrau Sophia [c] erscheint ihm nicht nur, sie verbindet sich mit ihm und wird ihn zeitlebens nicht mehr verlassen. Er erlebte sie als eine Emanation Christi. So wird Gichtel aus unmittelbarem Erleben einer der ganz wenigen Sophia-Erleuchteten Westeuropas. Er predigt nicht länger und schreibt kaum mehr als Briefe. Größere Geldsummen nimmt er nicht an; er will nicht mehr als das, was ihm in diesem Augenblick zum Leben unentbehrlich ist, empfindet er sich doch reich beschenkt, daß Frau Armut bei ihm einkehren wollte. Er entläßt seine Haushälterin, die ihm das Leben sauer macht - nicht, weil sie ihm gerade dadurch eine Hilfe auf seinem Weg ist. Ohne etwas Institutionsartiges zu gründen, lebt er schließlich mit einigen Gesinnungsgenossen zusammen. Man nennt sie die Engelbrüder.[d] An diesen Menschen aber muß er erleben, wie schwer es fällt, ein Bruder zu sein. - In einem Satz faßt Nigg [e] das Geheimnis Gichtels zusammen: «Er wollte nicht Erbaulichkeit, ergriffen und erschüttert begehrte er zu sein, denn dadurch wurden ihm Einsichten von höchster Seltenheit eröffnet. Die eigenartigste Erleuchtung besteht im Melchisedekschen Priesteramt,[f] das zum verborgenen Geheimnis der göttlichen Sophia gehört und das Gichtel von Gott selbst und nicht von Menschen empfangen hat.»
Das Mittelpunktereignis solcher Biographien ist nicht die Erleuchtung, aus der sich dann Schritt für Schritt weitere Erkenntnismöglichkeiten eröffnen können. Was sich hier manifestiert, ist ein Eingriff von außen, wobei zwar die Umstände sehr verschieden sein können,[g] die Folgen aber übereinstimmen: eine radikale, aus dem vorhergehenden Lebenslauf unerklärliche und anhaltende Veränderung. Diese ist kaum anders zu fassen als ein Sichlösen, ein Heraustreten aus dem gesamten Hüllenwesen, einschließlich der Ich-Organisation (Ich-Schatten), wodurch das höhere Ich über die ‹eigenen› Hüllen verfügen kann wie sonst ein Mensch über die (übrige) Außenwelt. Wir können über eine letzte Entäußerung sprechen, wie sie sonst erst beim Sterben und nach dem Tode auftritt. Was danach noch auf Erden lebt, dürfen wir wirklich mit dem oft auch zu Unrecht benutzten Terminus ‹Neugeburt› andeuten. Und da jenes nun in seiner reinen Größe zum Ausdruck kommende höhere Ich ein Teil Christi ist, kann mit Paulus gesagt werden, der ja vor Damaskus die Neugeburt erlebte: «Ich lebe, doch nicht ich, sondern der Christus in mir.»[h]
Dieter Brüll
aus «Bausteine für einen sozialen Sakramentalismus»; S.171ff
Unsere Anmerkungen
a] Johann Georg Gichtel war Rechtsanwalt und Verfasser von kirchenkritischen Schmähschriften, später dann asketisch pietistischer Laienmystiker; seine in zahlreichen Sendschreiben propagierten Ansichten wurden als «Theosophische Sendschreiben» von Gottfried Arnold (1700), dann ein weiteres Mal unter dem Titel «Theosophia practica» samt Biographie von Johann Wilhelm Überfeld (Leiden 1722, 6 Bde.) herausgegeben.
b] aus Regensburg 1665, später nocheinmal aus Zwolle: siehe Mt.10,9-10
c] die hellenistische Σοφία παρϑένη (Sophía parthéne) im Vergleich zur klassisch griechischen Παλλάς Ἀθήνη (Pallás Athéne, lat. Minerva virginea)
d] So nannten sich die Gichtelianer in Bezug auf Mt.22,30 selber.
e] Walter Nigg: «Heimliche Weisheit», Zürich 1959; S.215
f] vgl. Emil Bock zu Melchisedek und Abraham
g] vgl. Vitæ Galli vet.frag.
h] vgl. Mbl.27
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn201909.htm