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Neudenken:
Lichtwesen im Sufitum
Die Essenz des Ersten Absoluten Lichtes [a], Gott, schenkt fortwährende Erleuchtung, wodurch sie immer deutlicher manifestiert wird, und bringt alle Dinge ins Sein [b], indem sie es durch ihre Strahlen mit Leben begabt. Alles in der Welt ist von dem Licht Seiner Essenz abgeleitet, und alle Schönheit und Vollkommenheit sind die Gaben Seiner Güte; diese Erleuchtung vollkommen zu erreichen, ist das Heil⁴.
Der ontologische Status [c] eines Wesens hängt von dem Maße ab, in dem es erleuchtet oder verhüllt ist. Das Licht strahlt durch senkrechte und waagrechte Ordnungen von Engeln, die in wohl definierten Beziehungen zueinander stehen. Suhrawardis Engelslehre ist vielleicht der anziehendste Aspekt seines Werkes. Er sieht überall Engel; denn sie sind so zahlreich wie die Fixsterne, d. h. unzählig. Sie werden oft mit zoroastrischen Namen benannt; denn viele ihrer Züge sind aus der iranischen Tradition übernommen. In einer Gruppe beherrscht jeder Engel eine bestimmte Gattung. Gabriel ist der Archetyp der Menschheit, der rabb an-nau' al-insānī; er kann mit dem Heiligen Geist gleichgesetzt werden und als solcher mit dem urewigen Geiste Muhammads, dem Prototyp und Modell der Menschheit.[d] Alle Dinge werden ins Dasein gebracht durch den Laut der Schwingen Gabriels, die sich über die ganze Welt erstrecken.[e] Zusätzlich zu diesem allgemeinen Schutzengel der Menschheit hat auch jede einzelne Seele ihren eigenen Schutzengel. Denn die Seele besaß früher Existenz in der Engelswelt, und »wenn sie den Leib betritt ... wird sie in zwei Teile geteilt: einer bleibt im Himmel und der andere steigt hernieder in das Gefängnis oder die Festung des Körpers«⁵. Deswegen ist die Seele in dieser Welt unglücklich; sie sucht nach ihrer anderen Hälfte und muß mit ihrem himmlischen Urbild wieder vereinigt werden, um vervollkommnet zu werden und damit wieder ganz sie selbst sein.
Die Erzengel sind im Orient (sharq) lokalisiert, der als die Welt des reinen Lichtes ohne jede Materie aufgefaßt wird, während der Okzident die Welt der Finsternis und der Materie ist; die beiden Regionen werden durch den Himmel der Fixsterne getrennt, was bedeutet, daß man Orient und Okzident eher im vertikalen als im horizontalen Sinne verstehen sollte. Der Mensch lebt in der ghurbat al-gharbiyya, ›dem westlichen Exil‹; in einen Brunnen der Stadt Qairuwan gefallen, sehnt er sich heim nach Jemen, Arabia felix, dem Orient des Lichtes - und er versucht, diesen strahlenden Platz während seiner Erdenreise wiederzufinden.
Die Wahl von Jemen, dem Lande, das mit der ›rechten Seite‹ verbunden ist, geschah nicht zufällig - hatte nicht Muhammad gespürt, daß der nafas ar-Raḥmān, ›der Odem des Barmherzigen‹, aus Jemen zu ihm kam, wo Uwais al-Qarani lebte? Spätere Ishraqi-Philosophen haben auch die ḥikmat-i yūnānī, ›griechische Philosophie‹, mit der ḥikmat-i yamānī, ›jemenitischer Weisheit‹, konfrontiert, d. h. mit der mystischen Erkenntnis, die durch unmittelbare Erfahrung gewonnen wird.[f]
Wenn man Suhrawardis Beschreibung des ›Orients der Seele‹ liest, fällt es einem schwer, nicht an die Träume der deutschen Romantiker zu denken, die im Morgenland den mythischen Orient sahen, die wahre Heimat der Menschheit, das verlorene Paradies, das Ziel der geistigen Pilgerfahrt (das in unserer Zeit noch einmal in Hermann Hesses ›Morgenlandfahrt‹ symbolisiert worden ist). Und der Symbolismus des Jemen hat selbst die Rosenkreuzer erreicht.
Annemarie Schimmel
4. S. H. NASR, Three Muslim Sages (1963), S. 69, eine gute Studie über Avicenna, Suhrawardi und Ibn 'Arabi.
5. Ebd. S. 75.
aus «Mystische Dimensionen des Islam»; S.370ff
Unsere Anmerkungen
a] arab. nūr (wie נור)
b] arab. wujūd
c] Seinszustand, aus dem ein Wesen sich verwirklichen und damit offenbaren kann
d] Dschībrīl wird betrachtet als in Mohammed verwirklichter rūh el-qudus. Geisteswissenschaftlich gesehen, regt Michael (vgl. Mbl.13) den Menschen an, seinen Geist (sein Selbst) zu heiligen.
e] vgl. Mbl.15
f] Der Jemen gilt auch als Land von Balqis (בעלקיז), der Königin von Saba.
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn201802.htm