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Neudenken:
Landnahme oder Eroberung?
Auf die natürliche Einheit des Donauraumes, den die Karpaten wie ein Schutzwall umschließen, haben Historiker immer wieder hingewiesen. Während die westliche Hälfte - von den Ungarn Dunántul, Land jenseits der Donau, genannt - unter den Römern vier Jahrhunderte lang zusammen mit dem östlichen Niederösterreich (Noricum und Pannonien) eine Verwaltungseinheit bildete, war die große Ebene, das Alföld, zwischen dem linken Donauufer und den Vorgebirgen Siebenbürgens gelegen, die eigentliche Drehscheibe der Völkerwanderungszeit. Skythen, Sarmaten, Hunnen (unter Attila), Goten und Langobarden, Gepiden und schließlich für 200 Jahre die Awaren versuchten sich auf Dauer hier niederzulassen. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts gehörte Pannonien als Grenzprovinz zum Ostfränkischen Reich, Großmähren unter Fürst Swatopluk kontrollierte das Gebiet nördlich der Donau, während die große Ebene östlich der Donau und Siebenbürgen zum Einflußbereich bulgarischer Fürsten gehörte. Großmähren und Ostfranken haben einander im Zuge ihrer Reichsbildungsversuche erbittert bekämpft. Die Bewohner waren überwiegend slawische Bauern, einschließlich der teilweise slawisierten Awarensippe. Die Existenz einer verschiedene slawische Idiome sprechenden Bevölkerung gilt als gesichert.
[...] Fest steht jedenfalls, daß alle Gebiete im Donaubecken dünn besiedelt und die Berge der Karpaten praktisch unbewohnt waren, als Ende des 9. Jahrhunderts Reiterhirten eines ungarischen Stammesverbandes [a], aus den Steppen des heutigen Südrußland kommend, am Einfallstor der Karpaten erschienen. Was deutsche und österreichische Historiker als Ungarnsturm oder Magyareneinbruch [b] beschreiben, gilt den Ungarn selbst als Landnahme (Honfoglalás).[c] Was zunächst nur wie ein Wellenschlag der Völkerwanderung aussah, gewann bald eine neue geschichtliche Dimension mit entscheidenden Folgen auch für die Deutschen und Slawen im Donaubecken.
Die Eindringlinge stellten für ihre Opfer und Gegner »das mongolische Schreckgespenst eines asiatischen Nomadenvolkes« dar. Bereits 863 berichten die alemannischen Annalen, »ein Volk der Hunnen« habe die Christenheit angegriffen, wobei der Chronist - wie später auch die eigene nationale Überlieferung - die Ungarn mit den Hunnen gleichsetzte. Neben den Skythen wurde alles, was die Hunnen belastete, auch den Ungarn in die Schuhe geschoben. Byzantinische und arabische Reisende sprachen von ihnen als einem »Turkvolk«: eine These übrigens, die noch im 19. Jahrhundert in den berühmten Reiseberichten des Orientalisten Ármin Vámbéry [d] ihren Niederschlag fand.
Heute sind sich alle ernstzunehmenden ungarischen und ausländischen Historiker, Anthropologen und Ethnologen einig, daß diese Theorie falsch ist. Mangels schriftlicher und archäologischer Quellen bleibt die Sprache der einzige wissenschaftlich zuverlässige Beweis für die Herkunft der Ungarn. Ihre in Europa einzigartige Sprache ging aus der finnisch-ugrischen Sprachenfamilie hervor. Die Vorfahren der Ungarn gehörten zur ugrischen Gruppe, wobei die Wissenschaftler noch immer darüber streiten, ob die Ur-Ungarn am westlichen oder östlichen Abhang des Ural (Europa versus Asien!) gelebt haben. Die nächsten Sprachverwandten der Ungarn sind die heute kaum 30 000 Köpfe zählenden Ostjaken und Wogulen, die noch bis in die Neuzeit Jäger und Fischer geblieben sind.
Die Ungarn trennten sich im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung von der ugrischen Völkergruppe und zogen zusammen mit anderen Sippen südwestwärts. Später übernahmen sie unter dem Einfluß von türkischen und iranischen [e] Volksstämmen die Lebensweise nomadisierender Hirten. Das ursprünglich von Fischerei und Jagd lebende Volk stellte sich im Rahmen von schnell entstandenen und ebenso schnell verschwundenen Nomadenreichen auf Ackerbau und Viehzucht um. Wann ihre späteren Wanderungen begannen, wie lange sie gedauert haben, welche Wege sie nahmen und mit welchen Völkerschaften sie engere Kontakte pflegten, ist unbekannt. Über die Frühgeschichte der Altungarn und sogar über die Landnahme selbst sind die einzigen Quellen Mythen und Sagen, die erst zwei- bis dreihundert Jahre später entstanden sind.
Paul Lendvai
aus «Die Ungarn»; S.23f
Unsere Anmerkungen
a] unter Árpád
b] Die Bezeichnung „Ungar” (Hungarus) leitet sich von der türkischen Stammesorganisation der Onoguren (~ die von den zehn Pfeilen oder Stämmen) ab, während „Magyar” in die ugrische Zeit zurückreicht.
c] „Die Osmanen eroberten nicht, sie kamen einfach.” sagte der stellvertretende Ministerpräsident Veysi Kaynak am 8.IX.2016 in Szigetvár. Ähnlich sehen dies ungarische Entschuldiger der „Landnahme”.
d] Vámbéry, dessen in ganz Europa populärer Bericht «Travels and Adventures in Central Asia» 1864 erschien, war nebenbei auch britischer Agent.
e] eigentl. turanischen (vgl. Iran u. Turan)
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn201609.htm