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Einweihungsgeschehen
In der Dämmerung begleiteten Priester des Osiris [a], Fackeln haltend, den neuen Adepten [b] in eine niedrige Krypta, die vier von Sphinxen getragene Pfeiler stützten. In einem Winkel befand sich ein marmorner Sarkophag [c].
»Kein Mensch«, sagte der Hierophant [d], »entgeht dem Tod, und jede lebendige Seele ist zur Auferstehung bestimmt. Der Adept schreitet lebendig durch das Grab, um in diesem Leben schon einzutreten in das Licht des Osiris. Lege dich also hin in diesen Sarg und erwarte das Licht. Diese Nacht wirst du durch das Tor des Schreckens schreiten und die Schwelle der Meisterschaft erreichen.«
Der Adept legte sich in den offenen Sarkophag, der Hierophant streckte seine Hand aus, um ihn zu segnen, und der Zug der Eingeweihten entfernte sich schweigend aus dem Grabgewölbe. Eine kleine auf die Erde gestellte Lampe erhellte noch mit ihrem trüben Licht die vier Sphinxe, welche die gedrungenen Säulen der Krypta tragen. Ein Chor tiefer Stimmen wird hörbar, gedämpft und verschleiert. Von wo kommt er? Es ist der Totengesang! ... Er verhallt, die Lampe flackert noch einmal auf und verlischt dann ganz. Der Adept ist allein in der Finsternis, der Frost des Grabes fällt auf ihn, seine Glieder erstarren. Er gleitet allmählich durch die schmerzvollen Empfindungen des Todes und verfällt in Lethargie. Sein Leben entrollt sich vor ihm in aufeinanderfolgenden Bildern wie etwas Uraltes und sein irdisches Bewußtsein wird immer trüber und unbestimmter.[e] Doch während er allmählich seinen Körper sich auflösen fühlt, befreit sich der ätherische, fluidische Teil seines Wesens. Er tritt in Ekstase ...
Welch strahlender Punkt [f] erscheint, kaum merkbar in der Ferne, auf dem schwarzen Untergrund der Finsternis? Er nähert sich, er wächst, er wird zu einem Stern mit fünf Zacken, dessen Strahlen alle Farben des Regenbogens haben und der in die Finsternis hinein Ströme magnetischen Lichtes ergießt. Jetzt ist er eine Sonne, die ihn in die blendende Weiße ihres Mittelpunktes hineinzieht. - Ist es die Magie der Meister, die diese Vision hervorruft? Ist es das Unsichtbare, welches sichtbar wird? Ist es die Vorbedeutung der himmlischen Wahrheit, der funkelnde Stern der Hoffnung und der Unsterblichkeit? - Er verschwindet; und an seiner Stelle öffnet sich in der Nacht eine Blütenknospe, eine Blume, nicht körperlich, doch sinnlich wahrnehmbar und seelenbegabt. Denn sie öffnet sich vor ihm wie eine weiße Rose; sie entfaltet ihre Blütenkrone; er sieht, wie ihre lebendigen Blätter erzittern und ihr funkelnder Kelch sich rötet. - Ist es die Blume der Isis, die mystische Rose der Weisheit, welche die Liebe in ihrem Herzen einschließt? - Doch schon löst sie sich auf wie eine Wolke von Wohlgerüchen. Da fühlt sich der Verzückte von einem warmen liebkosenden Hauch umflossen. Nachdem sie verschiedene phantastische Formen angenommen, verdichtet sich die Wolke und wird zur menschlichen Gestalt. Es ist diejenige einer Frau, die Isis des okkulten Heiligtums, aber jünger, lächelnder und strahlender. Ein durchsichtiger Schleier schlingt sich spiralenförmig um sie und läßt ihren Leib durchschimmern. In ihrer Hand hält sie eine Papyrusrolle. Sie nähert sich sanft, sie beugt sich über den im Sarge liegenden Initiierten und bedeutet ihm: »Ich bin deine unsichtbare Schwester, ich bin deine göttliche Seele, und dieses ist das Buch deines Lebens. Es enthält die vollen Seiten deiner vergangenen und die weißen Seiten deiner künftigen Existenzen. Eines Tages werde ich sie alle vor dir entrollen. Du kennst mich nun. Rufe mich, und ich werde kommen!« Und während sie spricht, leuchtet ein Strahl der Zärtlichkeit in ihren Augen ... O Gegenwart eines engelhaften Doppelwesens, unsagbares Versprechen des Göttlichen, wunderbare Verschmelzung im unberührbaren Jenseits!
Aber alles zerstiebt, die Vision verlischt. Ein entsetzlicher Riß; und der Adept fühlt sich zurückgestürzt in seinen Körper wie in einen Leichnam. Er kehrt wieder in den Zustand bewußter Lethargie zurück; eiserne Ringe umspannen seine Glieder; ein furchtbares Gewicht lastet auf seinem Schädel; er wacht auf ... und vor ihm steht der Hierophant, umgeben von den Magiern. Man umringt ihn, man reicht ihm einen Stärkungstrunk, er richtet sich wieder auf.[g]
Édouard Schuré [h]
aus «Die großen Eingeweihten»; S.130ff
Unsere Anmerkungen
a] Die Einweihung in die Mysterien des Osiris war eine der vielen antiken Einweihungsformen.
b] lat. ~ der Angenommene
c] griech. ~ wörtl. Fleischfresser
d] griech. ~ der das Heilige Offenbarende - Dazu R.Steiner in Leipzig, am 12.IX.1908: „Der ägyptische Eingeweihte führte seinen Schüler bis zu der Stufe, wo er begreifen konnte die Ich-Entwickelung des Menschen. Ein solches Bild sollte seinen Geist formen. [...] und der ägyptische Eingeweihte wollte nicht banale, trockene Begriffe hineinpressen in Wahrheiten, sondern etwas in Bildern darstellen, was er geben konnte.” (in «GA 106»; S.138)
e] Dies wird auch der Weg in den Abgrund genannt.
f] vgl. „Punkt bin ich” und R.Steiner zu Stern, Kreuz und Gral
g] Wenn statt eines Sarkophags eine Raumkapsel vorgestellt wird, ergeben sich verblüffende ahrimanische Parallelen: der Flugleiter samt Bodenpersonal, die Enge und Überschwere beim Start, die Schwerelosigkeit mit der hinreissenden Schönheit der Erde vor Augen, der Rücksturz zu Boden uäm.
h] Der elsässische Schriftsteller Schuré, ein Romantiker des Okkulten, war mit Marie v.Sivers und Rudolf Steiner befreundet. Sein hier vorliegender Text ist ein gutes Beispiel für den oft erotisch angehauchten Schwulst, der um die Wende zum XX.Jahrhundert verbreitet worden ist.
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn201503.htm