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Neudenken:
Evidenz und Erfahrung
Husserl [a] versteht den Begriff der Erfahrung zwar in methodisch strengem, seiner Reichweite nach aber umfassenden Sinne, weder eingeschränkt auf die innere oder äußere sinnliche Erfahrung wie bei Kant¹⁷ oder das subjektive Erlebnis bzw. die Selbsterfahrung noch auf rein sprachliche oder - wie im Falle Hegels - begriffliche Erfahrung. Husserl und die Phänomenologie erheben die Erfahrung zu einer voraussetzungslosen und damit nicht dogmatischen philosophischen und wissenschaftlichen Methode, die ganz im Dienste einer Wesenserkenntnis (Wesensschau) der Phänomene steht.
17 Vgl. beispielsweise Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 2 ff.; B 147.
»Wie kann«, fragt Husserl in seinen Vorlesungen von 1907 »nun aber die Erkenntnis ihrer Übereinstimmung mit den erkannten Objekten gewiß werden, wie kann sie über sich hinaus und ihre Objekte zuverlässig treffen?« (Hua 2:20³) Und wie steht ein phänomenologischer Erfahrungsbegriff zur »Sphinx der Erkenntnis«,¹⁸ wie Husserl das Rätsel der Erkenntnis in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal [b] aus demselben Jahr einmal gekennzeichnet hat? Auf diese erkenntnistheoretischen Fragen bietet Husserls phänomenologisch-methodischer Begriff der Evidenz, die er auch als »ein allgemeines Urphänomen [c] des intentionalen Lebens« (Hua 1:9) bezeichnet, eine Antwort. So heißt es bei Husserl in den Cartesianischen Meditationen (1931): »Jeder seiende Gegenstand ist Gegenstand eines Universums möglicher Erfahrungen, wobei wir nur den Erfahrungsbegriff weiten müssen zum breitesten Begriff, dem der richtig verstandenen Evidenz. Jedem möglichen Gegenstand entspricht ein mögliches solches System« (Hua 1:25). Erfahrung und Evidenz korrelieren einander,[d] in Husserls Worten: »Erfahrung im gemeinen Sinne ist eine besondere Evidenz« und »Evidenz überhaupt ... ist Erfahrung in einem weitesten, und doch wesensmäßig einheitlichem Sinne« (Hua 1:93). Evidenz entspricht für Husserl einem »Es-selbst-geistig-zu-Gesicht-Bekommen« (Hua 1:52), sie ist ein »Einsehen mit dem gewöhnlichen Sehen in Wesensbeziehungen« (Hua 3/1:46). Das Kriterium der Evidenz beinhaltet zugleich Zweifelsfreiheit, da diese einer »Selbsterfassung eines Seienden oder Soseienden in dem Modus ›es selbst‹ in völliger Gewissheit dieses Seins,[e] die also jeden Zweifel auschließt« (Hua 1:56) entspricht. Phänomenologische Erfahrung, so können wir [...] sagen, ist demnach eine um das Strukturmoment der Evidenz erweiterte zweifelsfreie Erfahrung. Phänomenologisches Wissenschaftskriterium ist also nicht die Frage nach der Subjektivität oder Objektivität der Erfahrung,[f] sondern die Stufe des jeweiligen Evidenzerlebnisses und damit des Wirklichkeits-, Wesens- und Wahrheitsgehaltes der jeweiligen Erfahrung. In Bezug auf die Wissenschaften, aber auch die Philosophie, soll für Husserl »nichts als wirklich wissenschaftlich gelten, was nicht durch vollkommene Evidenz begründet ist, d.h. auszuweisen ist durch Rückgang auf die Sachen oder Sachverhalte selbst in ursprünglicher Erfahrung und Einsicht« (Hua 1:25). Wird das Kriterium der Evidenz nicht erfüllt oder erweist sich eine einmal erfahrene Evidenz im Fortgang weiterer Erfahrung als überholt oder falsch [g], so wird im Prozess des Erkennens weiter fortgeschritten und es werden weitere Untersuchungen mit dem Ziel weiterer Erfüllung und Bewährung der Erfahrung angestellt.
3 Ich zitiere Husserls Werke im Text nach der Ausgabe seiner Gesammelten Werke (Husserliana, abgekürzt Hua). [...]
18 »Sobald die Sphinx der Erkenntnis ihre Frage gestellt hat, sobald wir in das abgrundtiefe Problem der Möglichkeit einer, doch nur in subjectiven Erlebnissen sich vollziehenden und gleichwohl eine an sich seiende Objectivität erfassenden Erkenntnis geblickt haben, ist unsere Stellung zu aller vorgegebenen Erkenntnis u. zu allem vorgegebenen Sein - zu aller Wissenschaft und aller prätendirten Wirklichkeit - eine radical andere geworden. Alles fraglich, alles unverständlich, rhätselhaft!« Edmund Husserl: Dokumente. Briefwechsel, hg. Karl Schuhmann, Bd. 7: Wissenschaftskorrespondenz, The Hague 1994, S. 134.
Das Kriterium der Evidenz ermöglicht die wissenschaftliche Rechtfertigung eines Erkenntnisverfahrens, das auf der Methode der erweiterten Erfahrung und nicht der Diskursivität, Konstruktion oder abstrakten Spekulation gegründet ist. Zugleich lässt sich vor dem Hintergrund der phänomenologischen Struktur der Evidenz auf phänomenologische Weise erhellen, warum auch für Goethe die Erfahrung nicht bloß subjektiv ist. Wie er unter anderem in Der Versuch als Vermittler zwischen Subjekt und Objekt (1792)¹⁹ darlegt, sind in der wissenschaftlich geleiteten Erfahrung (im Experiment) Subjekt und Objekt, Ich und Welt in ursprünglicher und konstitutiver Weise miteinander verbunden.
19 Titelgebung wahrscheinlich erst 1823 anlässlich der Drucklegung. Goethe sendet den Aufsatz 1798 an Schiller mit dem Titel Kautelen (= Vorsichtsmaßnahmen, Bedingungen) des Beobachters. Schiller kommentiert den Aufsatz u.a. mit der Bemerkung, er würde die »Erfordernisse aller rationellen Empirie« berühren. [...]
Iris Hennigfeld
in »die Drei« 1/2015; S.41ff
Unsere Anmerkungen
a] Edmund Husserl, der Philosoph des Phänomenalismus'
b] Hofmannsthal war Dichter des Fin de siècle und der Wiener Moderne sowie Mitbegründer der Salzburger Festspiele.
c] vgl. »TzN Feb.2007«
d] dh. sie bedingen einander, weil sie wechselwirken
e] nämlich wenn ein auf eine bestimmte Weise wirksames Wesen sich selbst dabei bewusst erfasst
f] die ohnehin sinnlos ist (vgl. «E+E»: Anm.54)
g] Innerhalb ihres Erfahrungsraumes ist eine Evidenz stets richtig. Ändert sich dieser, so muss sie neu gefasst werden.
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn201502.htm