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Neudenken:
Die Klagemauer
Durch das Jaffator ging man im Schatten des arabischen Bazars, des Suk, der auf den Neuling wie ein Tunnel wirkte. Irgendwo zweigte dann ein Winkelgäßchen ab und führte in die tiefe Schlucht vermooster Häuser, aus der die Mauer der Tränen ragte. Ich sehe sie in einem grünlichen Lichte vor mir. Woher kommt dieses Bild? Ist die Mauer von den Tränen der Generationen, die hier gebetet und geweint haben, feucht geworden? Ist das grünliche Licht ein Abglanz der Schechina [a], der göttlichen Herrlichkeit, die nie von diesem Stein gewichen sein soll?
Ich weiß es nicht. Ich will mich für das grünliche Licht und die tränennassen Quadern nicht verbürgen. Das alles lebt so und nicht anders in meiner Erinnerung, in welche die dürren braunen Hände der Bettler ragen, die den Pilger anflehen oder gierig nach ihm greifen.[b]
Bettler, Schnorrer saßen an der Mauer und bereits auf dem Wege zur Mauer, hatten ihre festen Plätze, vom Großvater auf den Vater und weiter auf Sohn und Enkel vererbt. In Emailschüsselchen und Blechdosen sammelten die Armen der Mauer Almosen. Manche sollen reich geworden sein. Ich kann das nicht nachprüfen.
Mit zahnlosem Mund murmelten bärtige Greise magische Segensformeln über das Haupt des Pilgers, nötigten ihn zum Entzünden von Lichtern in schwimmendem Öl und leierten nach Empfang ihres Obolus ein paar Psalmverse.
[...]
Jetzt redeten die Schnorrer jiddisch und spaniolisch und schließlich hebräisch auf mich ein ... und ich verstand gar nichts.
Sie einigten sich auf den unübersetzbaren Begriff »Jecke«. Gemeint ist damit ein deutscher Jude, der wirklich aus Deutschland kommt und kein jüdisches Idiom so recht versteht.
Aber die stumme Sprache der Steine verstand ich. Und sie war eindringlicher als alles Geplapper um mich herum. Menschliche Rede versank ins Wesenlose. Mein Dialog mit den Steinen der Vergangenheit war das Überwirkliche. Damals, bei dieser ersten Begegnung, entschied sich mein Schicksal. Mein Schicksal heißt: Jerusalem.
Ich bin kein »Lover of Zion«, der aus der Ferne Sehnsuchtslieder nach Zion dichtet. Ich bin ein Gefangener Jerusalems. Es hat mich mit Beschlag belegt.
Das war nicht leicht. Ein langjähriger Prozeß und doch schon bei dieser ersten Begegnung [c] mit der Mauer entschieden. Was hat sie damals zu mir gesagt, die uralte Mauer? Es wäre eine Romantisierung hart an der Grenze dessen, was man nationalen und religiösen Kitsch nennen muß, wenn ich jetzt, nach über einem Menschenalter, einen Dialog, eine Zwiesprache zwischen den Quadern des Herodes [d] und meiner Wenigkeit ersinnen würde. In Vers und Prosa wäre es gelogen - und trotzdem wahr. Das ist die Schwierigkeit. Eine Wahrheit kann zur Lüge werden, wenn man sie ausspricht.
Das ungesprochene Wort kann eine Realität [e] sein, stärker als viele geredete Wörter. Dieses ungesprochene Wort, das in mich eindrang, mich durchdrang, von mir Besitz ergriff, meinte: Du gehörst mir, denn wir gehören zusammen.
Ich glaube seit dieser Zeit auch an Wiedergeburt,[f] vermute, daß ich hier in der Gegend wohl schon einmal (oder öfters) meine irdische Bahn zog.
Schalom Ben-Chorin
aus «Ich lebe in Jerusalem»; S.33ff
Unsere Anmerkungen
a] siehe Schechina
b] vgl. «E+E»: Abs.161}
c] im Herbst 1935 (siehe auch E.BOCK zum Mythos Jerusalem)
d] Gemeint ist Herodes I. (der Grosse), welcher den um 515v errichteten zweiten Tempel um 20v prachtvoll ausbauen liess. Dieser Tempel ist im Jahr 70 während des Jüdischen Krieges zerstört worden (vgl. »TzN Sep.2006«).
e] vgl. »TzN Jän.2004«: Anm.b
f] vgl. Mbl.8
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn201104.htm