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Neudenken:
Gesang und Sprache
Gehen wir von der Sprache aus. Im Laufe der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit ist ja eigentlich die Sprache aus einem ursprünglich Gesanglichen hervorgegangen.[a] Je weiter wir zurückgehen in vorhistorische Zeiten, desto ähnlicher wird das Sprechen dem Rezitativ und zuletzt dem Singen. Und in sehr alten Zeiten der irdischen Menschenentwickelung unterschied sich die lautlich-tonliche Offenbarung des Menschen nicht nach Gesang und Sprache, sondern beides war eines. Und was man von der menschlichen Ursprache oftmals mitteilt, das ist eigentlich so, daß man auch sagen könnte: diese menschliche Ursprache ist ein Urgesang. Wenn wir die Sprache in ihrem heutigen Zustande betrachten, wo sie sich schon sehr stark von dem rein Gesanglichen entfernt hat und untergetaucht ist in das Prosa-Element und in das intellektualistische Element, dann haben wir in der Sprache wesentlich zwei Elemente: das konsonantische und das vokalische Element. Alles, was wir in der Sprache zur Geltung bringen, setzt sich ja zusammen aus einem konsonantischen Element und einem vokalischen Element. Das konsonantische Element beruht eigentlich ganz auf unserer feineren Körperplastik. Wenn wir ein B oder ein P oder ein L oder ein M sprechen, so beruht das darauf, daß irgendetwas in unserem Körper eine bestimmte Form hat. Es ist nicht immer so, daß man, wenn man von diesen Formen spricht, nur von dem Sprach- oder Gesangsapparat zu sprechen hat. Die sind nur die höchste Gipfelung. Denn wenn der Mensch einen Ton oder Laut hervorbringt, so ist eigentlich sein ganzer Organismus daran beteiligt, und was da in den Gesangs- oder in den Sprachorganen vor sich geht, das ist nur die letzte Gipfelung dessen, was im ganzen Menschen vor sich geht. So daß unser menschlicher Organismus eigentlich auch so aufgefaßt werden könnte in seiner Form, daß man sagt: Alle Konsonanten, die eine Sprache hat, sind ja eigentlich immer Varianten von zwölf Urkonsonanten.[b] Sie finden zum Beispiel im Finnischen diese zwölf Urkonsonanten wesentlich noch fast rein erhalten: elf sind ganz deutlich, nur der zwölfte ist etwas undeutlich geworden, aber er ist auch noch deutlich vorhanden in ... [Lücke im Text]. Diese zwölf Urkonsonanten, wenn man sie richtig erfaßt - man kann jeden zugleich durch eine Form darstellen [c] -, sie stellen, wenn man sie zusammenstellt, eigentlich die ganze Plastik des menschlichen Organismus vor. So daß man dann, ganz ohne daß man im Bilde spricht, sagen kann: Der menschliche Organismus ist plastisch ausgedrückt durch die zwölf Urkonsonanten.
Was ist denn dann eigentlich dieser menschliche Organismus? Dieser menschliche Organismus ist eigentlich von diesem Gesichtspunkte aus, von dem Gesichtspunkte des Musischen aus, ein Musikinstrument. Ja, auch die äußeren Musikinstrumente können Sie im Grunde genommen dadurch begreifen, daß Sie sie in ihren Formungen, ob Sie schließlich die Violine oder ein anderes Instrument nehmen, irgendwie konsonantisch durchschauen, sie gewissermaßen als aus den Konsonanten herausgebaut anschauen. Wenn man vom Konsonantischen spricht, hat man eigentlich im Gefühl immer etwas, was an Musikinstrumente erinnert. Und die Gesamtheit, die Harmonie alles Konsonantischen stellt eigentlich die Plastik des menschlichen Organismus dar.
Und das Vokalische - das ist die Seele, die auf diesem Musikinstrument spielt. Die gibt das Vokalische. So daß Sie eigentlich, wenn Sie in der Sprache das Konsonantische und das Vokalische verfolgen, in jeder sprachlichen und tonlichen Äußerung eine Selbstäußerung des Menschen haben. Die Seele des Menschen spielt vokalisch auf dem Konsonantismus des menschlichen Körperinstrumentes.[d]
Rudolf Steiner
in Dornach am 2.Dez.1922 ♄ (aus «GA 283»; S.103ff)
Unsere Anmerkungen
a] vgl. R.STEINER in «GA 11»; S.67f u. HAUER, J.M.: Melos und Sprache
b] Das Hebräische gliedert seine 22 Konsonanten (Vokale werden nicht geschrieben) in 3 Mutter-, 7 Doppel- und 12 einfache Buchstaben.
c] vgl. zB. STEINER, R.: «Eurythmie als sichtbare Sprache»
d] siehe BÜHLER, W.: «Der Leib als Instrument der Seele»
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn200903.htm