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Nachdenken:
Eine entscheidende Wende
Zur entscheidenden Wende in Miloševićs politischer Laufbahn kam es 1987 anlässlich eines Aufenthalts in der Kosovo[a]-Hauptstadt Priština. Am Abend des 24. April traf er im Haus der Kultur mit den kommunistischen albanischen Führern zusammen, um sich mit ihnen über die Lage in der Autonomen Provinz zu beraten und zwischen der aufgebrachten serbischen Bevölkerung und der albanischen Parteiführung zu vermitteln. Vor dem Gebäude hatten sich rund 15.000 Serben und Montenegriner versammelt. Einige von ihnen versuchten, den Polizeikordon zu durchbrechen, um direkt mit Milošević zu sprechen. Die Atmosphäre war aufgeheizt; es flogen Steine. Die Polizisten unter Führung ihrer zumeist albanischen Offiziere gingen brutal gegen die Demonstranten vor. Als Milošević über die Ereignisse vor dem Gebäude Kenntnis erhielt, trat er vor die aufgebrachte Menge, die ihm zurief: „Sie prügeln uns, sie prügeln uns!” Nach Augenzeugenberichten sei Milošević bleich gewesen und habe am ganzen Körper gezittert. Dann sprach er jenen Satz aus, der ihn schnell in ganz Jugoslawien und darüber hinaus bekannt machen sollte: „Niemand darf euch schlagen” (Niko ne sme da vas bije).
Über das Ereignis selbst und darüber, was Milošević mit seiner Bemerkung ausdrücken wollte, gibt es unterschiedliche Versionen. Tatsache ist, dass die Demonstranten ihm begeistert zujubelten und frenetisch seinen Vornamen „Slobo, Slobo”[b] skandierten. Zurückgekehrt in das Haus der Kultur diskutierte Milošević anschließend zwölf Stunden lang mit einer Delegation der Demonstranten und hörte sich deren Beschwerden an. Vor seiner Abreise erklärte er: „Wir müssen Brüderlichkeit und Einheit wie unseren Augapfel hüten. Wir können nicht und wir wollen nicht die Bevölkerung in Serben und Albaner teilen, aber wir müssen eine Linie ziehen zwischen den ehrlichen und fortschrittlichen Leuten auf der einen und den Konterrevolutionären und Nationalisten auf der anderen Seite.” Die Serben forderte er auf, in Kosovo, dem Land ihrer Ahnen, zu bleiben, und fügte hinzu, dass Jugoslawien nicht ohne Kosovo existieren könne, dass Jugoslawien und Serbien Kosovo nicht preisgeben würden.⁷⁸⁸ Serbische Analysten, die den Auftritt Miloševićs in Priština studiert haben, sind überzeugt, dass die Episode das politische Agieren des bislang unscheinbaren Funktionärs grundlegend verändert habe: Aus einem vorsichtigen Apparatschik der Tito[c]-Ära, der sich politisch stets bedeckt und weitgehend konform verhalten hatte, war nach dem Bad in der Menge ein „anderer Mann” geworden, einer, der die Mobilisierungskraft des Nationalismus erkannt und verstanden hatte. Mit dem Satz „Niemand darf euch schlagen”, der in jedem Rechtsstaat eine Selbstverständlichkeit ist, hatte Milošević - wohl eher unerwartet und unbeabsichtigt - ein Signal gesetzt, das ihn über Nacht bei den Serben in allen Teilen Jugoslawiens populär machte. Dass aus einer Selbstverständlichkeit ein Signal werden konnte, lag an der Krisenwahrnehmung in der Bevölkerung und der Deutung der Krise. [...] So entfaltete ein kleiner, banaler Satz eine große Wirkung. Wahrscheinlich wurde auch Milošević davon überrascht. Aus einer unscheinbaren Episode ging er als Volksheld, als „Retter der Serben”, als „Führer” (vodja, vožd) hervor.⁷⁸⁹[d]
Holm Sundhaussen
788 Nach COHEN, L[ENARD] J.: [Serpent in the Bosom: The Rise and Fall of] Slobodan Miloševic (Boulder/Co. 2001), 238 f.
799 Ebd.; DJUKIĆ, SLAVOLJUB: Kako se dogodio vodja: borba za vlast u Srbiji posle Josipa Tita [Wie sich der Führer ereignete: der Kampf um die Macht in Serbien nach Josip Tito]. Beograd 1992, S.127.
aus «Geschichte Serbiens»; S.403f
Unsere Anmerkungen
a] damals autonome Provinz Serbiens in Jugoslawien
b] Sloboda bedeutet Freiheit - vgl. «E+E»: Anm.113
c] der einstige kommunistische Partisanenführer, Terrorist und spätere Staatschef Josip Broz († 1980)
d] Das war der Anfang vom Ende des Kosovo als einer serbischen Region. Danach offenbarten sich die latenten Bestrebungen, ein Grossalbanien zu errichten, dessen Vorstufe das Kosovë bildete, ein zunehmend handlungsunfähiges Kuriosum der Staatengemeinschaft, insbesondere der Europäischen Union; seine am 17.Februar einseitig erklärte Unabhängigkeit wird nunmehr im Namen von Freiheit und Recht ebenso ungeprüft anerkannt, wie seinerzeit Milošević als rechtmässiger Führer der Serben akzeptiert worden war. Schon Ronald SYME schrieb in seinem Standardwerk «Die römische Revolution» auf S.59: „Freiheit und Gesetz sind schön klingende Worte. Aber bei ruhiger Betrachtung zeigt sich, daß sie oft nur als Vorspann für Privileg und Besitzinteresse gebraucht werden.”
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn200803.htm