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ZUM
NACHDENKEN:

Falsche Propheten

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Durchschauen heißt in erster Linie, einem Truggebilde auf den Grund gehen. Doch Trug bzw. Täuschung heißt hier nicht nur Vorspiegelung von etwas Wahrem, sondern Vernutzung des Elementes der Wahrheit zur Verschleierung und Verbreitung von Dingen, die das Denken beleidigen - denn sie sind nicht »wahrheitsfähig«. Täuschung heißt hier nicht nur Vorspiegelung von Liebe, sondern Vernutzung des Elementes der Liebe (des Interesses und der Anteilnahme am Anderen)[a] zur Verschleierung und Verbreitung von Dingen, die das Herz beleidigen - denn sie sind nicht »liebefähig«.

Der entscheidende Punkt geht uns nun auf, wenn wir bemerken: Der Täuschende hinter der Täuschung ist ein »Wurm«,[b] der ebenso in den gedanklichen wie in den sozialen Grundlagen sein Unwesen treibt. Dieser Wurm ist letztlich das Ego [c] - die Selbstsucht. Das Ego ist der größte Täuscher und Selbsttäuscher.

Es bedurfte eines langen Ringens, bis mir aufging, in welchem Ausmaß das Anti-Denken nicht nur die gedankliche, sondern auch die soziale Beweglichkeit abbaut. Und es bedurfte wiederum eines langen Ringens, bis mir aufging, in welchem Ausmaß der Ego-Wurm sich auch im Gedanklich-Wissenschaftlichen findet - indem nämlich »eine (vermeintliche) Erkenntnisfrage gar nicht auf der Erkenntnisebene gestellt wird, da sie aus dem Willen heraus längst beantwortet ist«.(4)

Dem im Gedankenleben wütenden Ego-Wurm kommen wir auf die Spur, wenn wir bemerken, dass viele wissenschaftliche Thesen häufig nichts anderes sind als »deskriptive Kommandos«, als Wegbeschreibung kaschierte »Marschbefehle«. Ganze Theoreme erweisen sich als ein bloßes Strategiebündel: »Verschaltungen im Gehirn legen uns fest: Wir sollten aufhören von Freiheit zu sprechen« oder »das Ich ist eine Illusion, die sich über sich selbst täuscht«. Diese Thesen besagen, auf ihr Wesen hin - oder eben vielmehr auf ihren Wurm hin entblößt, nur eines: »Wir wünschen uns, dass uns Verschaltungen festlegen und wir aufhören von Freiheit zu sprechen« und »Wir wünschen uns, dass das Ich zur Illusion werde, die sich über sich selbst täuscht«.

Auch diese Theorien haben ihre intellektuellen Agenten, und diese Agenten sind die falschen Propheten. Falsche Propheten entfalten ihre Wirksamkeit durch Inanspruchnahme dessen, was sie leugnen.[d] Die »deskriptiven Kommandos« der falschen Propheten sind Bequemlichkeitsangebote an jenes »Ich«, das sie zugleich zum Phantom erklären. Wir werden also gerade hier mit psychologischen Zwiespältigkeiten konfrontiert, deren satirisches Potential wohl längst entdeckt wäre, wäre es nicht so bitter. Die falschen Propheten schwören auf die Illusion der Wirklichkeit, des Ichs, der Freiheit und überhaupt des aktuellen Geistes, aber wehe, es fällt jemandem ein, sie so zu nehmen, wie sie ihren eigenen Theorien zufolge genommen werden müssten: als »Niemand«,[e] als leibhaftiges Exempel der Nichtigkeit, die sie verbreiten.

Sobald die deskriptiven Kommandos und die versteckten Imperative Gehör finden, sind wir bereits im Begriffe, ihnen die Bedingungen ihrer Bewahrheitung zu verschaffen.[f] Die Falschheit wird zur Realität.[g] Nun erst zeigt sich die Brisanz der folgenden Charakterisierung, der ich ja auch den Ausdruck der »falschen Propheten« entnehme: »Was sind denn die Materialisten [h] eigentlich? Sie haben eine Weltanschauung, welche heute nicht der Wirklichkeit entspricht, welche aber einmal der Wirklichkeit entsprechen könnte bei den Menschen. Diese Materialisten sind Propheten, nur falsche Propheten! Sie träumen von einer Welt, die, wenn es nach ihnen ginge, in ihrem Sinne hergestellt werden könnte. (...) Wenn man einsehen wird, dass Materialisten Träumer sind, daß man zu ihnen sagen muß: Ihr geht durch die Welt und seht die Wirklichkeit nicht, ihr träumt von einem Dasein, das höchstens durch eure Einsichtslosigkeit gegenüber der Welt herbeigeführt werden könnte, ihr seid falsche Propheten, ihr macht euch allerlei Hirngespinste! - in dem Moment wird man den Materialismus richtig taxieren. Also das entgegengesetzte Urteil von dem, was die Materialisten (...) von sich aus erträumen, das wird man haben müssen.«(5)

[...]

Stefan Brotbeck

4) Stephan Stockmar, persönliche Mitteilung 28.4.2006
5) Rudolf Steiner: Kosmische und menschliche Geschichte VII: Die geistigen Hintergründe des Ersten Weltkrieges. Dornach 1994.2, GA 174b, S.137.

aus "Stellt euch nicht dem Bösen entgegen - Eine Einladung zur Erübung eines guten Blicks"
in »die Drei« 8/9 2007; S.60f

Unsere Anmerkungen

a] vgl. »TzN Mär.2005«
b] In der Computersprache wird "Wurm" ein Programm genannt, das sich unter Benützung "höherer Ressourcen" (zB. Netzwerkdienste oder Wirtsanwendungen) über eMails oder Netzwerke verbreitet. In erster Linie dient es dem Versuch, möglichst viele Rechner zu befallen und Ressourcen zu binden; es kann jedoch auch seine eigenen Codes zur Geltung bringen.
c] zur Differenzierung des Ich-Begriffs siehe Mbl.5: Anm.3
d] vgl. »TzN Jän.2005«
e] <oudeís> (lat. nemo) bezieht sich auf das schiere Nichtvorhandensein, die Unbedeutung einer Person. Aber schon im 9.Gesang (Vers 365) der «Odyssee» wird auf die Doppelbödigkeit dieses Begriffs angespielt: <Outís emoí g' ónoma> (~ Keiner denn mein Name).
f] Der denkende Mensch schafft Wirklichkeit, die bis in die Tatsächlichkeit gerinnen kann.
g] vgl. mit den "self fulfilling prophecies" bzw. der "erfundenen Wirklichkeit" nach Paul Watzlawick
h] und deren Abarten wie etwa Evolutionsbiologisten und Sozialdarwinisten

red.13.XI.2007
WfGW, 1220 Wien / AT