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Nachdenken:
Zur Seelenbewegung Liebe
Fragment 775
Liebe kann durch absoluten Willen in Religion übergehen. Des höchsten Wesens wird man nur durch Tod wert (Versöhnungstod).
Novalis
aus «Gesammelte Werke - Erster Band»; S.338
1 Daß die Welt in steter Treu
Eintracht im Verwandeln hält,
daß im Zwist die Samen doch
ew'ges Bündnis halten,
daß Phöbus den rosigen Tag
mit goldnem Gespann heranführt
und geleitet vom Abendstern,
Phöbe den Nächten gebietet,
und das gierige Meer die Flut
in gesicherter Grenze hält,
noch dem Lande erlaubt ist,
seine Küsten hinauszuschieben,
solch Ordnung der Dinge bindet
sie, die Länder und Wogen regiert,
Liebe, die den Himmel beherrscht.
Wenn locker sie ließe die Zügel:
was eben einander noch liebt,
führte beständigen Krieg,
und was jetzt in vereinter Treu
schönes Bewegen betreibt,
eilte, den Kunstgriff zu stören.
Hier umfängt sie den heiligen Bund,
der die Völker vereint hält,
wie hier sie der Ehe geweihtes Band
keusch in Zuneigung knüpft,
hier auch schreibt Treue ihr
hohes Gesetz den Gefährten vor.
O glückliches Menschengeschlecht,
wenn eure Seelen die Liebe,
wie diese den Himmel führt, leitet!
Anicius Manlius Severinus Boethius [a]
aus «Trost der Philosophie»
2 Und abgelöst wird unsere Zeit von derjenigen, in der das Liebebedürfnis hereinleuchten wird. In einem noch ganz anderen Sinne wird sich verwirklichen das, was auch christliche Liebe [b] genannt werden kann in diesem sechsten Kulturzeitraum [c]. Wir nähern uns ihm langsam immer mehr, diesem sechsten Zeitraum, und gerade dadurch, daß wir den Menschen in der anthroposophischen Bewegung bekannt machen mit dem, was die Geheimnisse des Weltalls sind, was das Wesen der verschiedenen Individualitäten des physischen Planes oder der höheren Plane ist, versuchen wir in ihm zu entzünden die Liebe für ein jegliches Dasein. Nicht so sehr dadurch, daß wir von dieser Liebe sprechen, als dadurch, daß wir das fühlen, was in der Seele diese Liebe entzünden kann, bereitet sich durch die Anthroposophie der sechste Zeitraum vor. Dadurch aber werden die Liebekräfte in der ganzen Seele des Menschen besonders bloßgelegt und wird das vorbereitet, was die Menschheit braucht, um nach und nach zu einem wahren Verständnis des Mysteriums von Golgatha [d] zu kommen. Denn dieses Mysterium von Golgatha ist zwar geschehen, zwar hat das Evangelium hervorgerufen, was gestern bezeichnet wurde als vergleichbar mit der kindlichen Sprache, aber noch ist diese tiefste Lehre von der Mission der Erdenliebe, wie sie verknüpft ist mit dem Mysterium von Golgatha, nicht begriffen.[e] Das kann vollständig erst begriffen werden im sechsten nachatlantischen Kulturzeitraum, wenn die Menschen sich immer mehr dazu erheben werden, die Basis, die Grundlage in Wirklichkeit vollständig in sich selber zu finden und aus dem Innersten, das heißt aus der Liebe das zu tun, was geschehen soll; wenn vollständig überwunden sein wird das Angewiesensein des Menschen auf die Gebote, wenn eingetreten sein wird der Zustand: «Pflicht, wo man liebt, was man sich selbst befiehlt», wie Goethe sagt. Wenn in unserer Seele erwachen die Kräfte, daß wir gar nicht mehr anders können, als aus Liebe zu vollbringen, was wir tun sollen, dann haben wir so etwas in uns entdeckt, wie es immer mehr und mehr zur Verbreitung kommen muß im sechsten Kulturzeitraum. Damit werden aber ganz besondere Kräfte auch des ätherischen Leibes bloßgelegt für die menschlichen Naturen.
Rudolf Steiner
in Nürnberg, am 3.Dez.1911 (in «GA 130»; S.195f)
3a Daß die unmittelbare Beziehung ein Wirken am Gegenüber einschließt, ist an einem der drei Beispiele offenbar: die Wesenstat der Kunst bestimmt den Vorgang, in dem die Gestalt zum Werk wird. Das Gegenüber erfüllt sich durch die Begegnung, es tritt durch sie in die Welt der Dinge ein, unendlich fortzuwirken, unendlich Es, aber auch unendlich wieder Du zu werden, beglückend und befeuernd. Es »verkörpert sich«: sein Leib steigt aus der Flut der raum- und zeitlosen Gegenwart an das Ufer des Bestands.
3b Nicht so offenbar ist die Wirkensbedeutung an der Beziehung zum Menschen-Du. Der Wesensakt, der hier die Unmittelbarkeit stiftet, wird gewöhnlich gefühlhaft verstanden und damit verkannt. Gefühle begleiten das metaphysische und metapsychische Faktum der Liebe, aber sie machen es nicht aus; und die Gefühle, die es begleiten, können sehr verschiedener Art sein. Das Gefühl Jesu zum Besessenen ist ein anderes als das Gefühl zum Lieblingsjünger; aber die Liebe ist eine. Gefühle werden »gehabt«; die Liebe geschieht.[f] Gefühle wohnen im Menschen; aber der Mensch wohnt in seiner Liebe. Das ist keine Metapher, sondern die Wirklichkeit: die Liebe haftet dem Ich nicht an, so daß sie das Du nur zum »Inhalt«, zum Gegenstand hätte; sie ist zwischen Ich und Du. Wer dies nicht weiß, mit dem Wesen weiß, kennt die Liebe nicht, ob er auch die Gefühle, die er erlebt, erfährt, genießt und äußert, ihr zurechnen mag. Liebe ist ein welthaftes Wirken. Wer in ihr steht, in ihr schaut, dem lösen sich Menschen aus ihrer Verflochtenheit ins Getriebe; Gute und Böse, Kluge und Törichte, Schöne und Häßliche, einer um den andern wird ihm wirklich und zum Du, das ist, losgemacht, herausgetreten, einzig und gegenüber wesend; Ausschließlichkeit ersteht wunderbar Mal um Mal - und so kann er wirken, kann helfen, heilen, erziehen, erheben, erlösen. Liebe ist Verantwortung eines Ich für ein Du: hierin besteht, die in keinerlei Gefühl bestehen kann, die Gleichheit aller Liebenden, vom kleinsten bis zum größten und von dem selig Geborgnen, dem sein Leben in dem eines geliebten Menschen beschlossen ist, zu dem lebelang ans Kreuz der Welt Geschlagnen, der das Ungeheure vermag und wagt: die Menschen zu lieben.
3c Im Geheimnis verbleibe die Wirkensbedeutung im dritten Beispiel, dem von der Kreatur und ihrer Anschauung. Glaub an die schlichte Magie des Lebens, an den Dienst im All, und es wird dir aufgehn, was jenes Harren, Ausschaun, »Kopfvorstrecken« der Kreatur meint. Jedes Wort würde fälschen; aber sieh, die Wesen leben um dich her, und auf welches du zugehst, du kommst immer zum Wesen.
[...]
3d - Du redest von der Liebe, als wäre sie die einzige Beziehung zwischen Menschen; aber darfst du sie auch nur als das Beispiel gerechterweise wählen, da es doch den Haß gibt?
- Solange die Liebe »blind« ist, das heißt: solang sie nicht ein ganzes Wesen sieht, steht sie noch nicht wahrhaft unter dem Grundwort der Beziehung. Der Haß bleibt seiner Natur nach blind; nur einen Teil eines Wesens kann man hassen. Wer ein ganzes Wesen sieht und es ablehnen muß, ist nicht mehr im Reich des Hasses, sondern in dem der menschhaften Einschränkung des Dusagenkönnens. Daß dem Menschen widerfährt, zu seinem menschlichen Gegenüber das Grundwort, das stets eine Bejahung des angesprochenen Wesens einschließt, nicht sprechen zu können, entweder den anderen oder sich selbst ablehnen zu müssen: das ist die Schranke, an der das In-Beziehung-treten seine Relativität erkennt und die erst mit dieser aufgehoben wird.
3e Doch der unmittelbar Hassende ist der Beziehung näher als der Lieb- und Haßlose.
Martin Buber
aus «Ich und Du»; S.21ff
4 Tu connais le festin des noces, une fois que l'ont déserté les convives et les amants. Le petit jour expose le désordre qu'ils ont laissé. Les jarres brisées, les tables bousculées, la braise éteinte, tout conserve l'empreinte d'un tumulte qui s'est durci. Mais à lire ces marques, me dit mon père, tu n'apprendras rien sur l'amour. Du kennst das Fest der Heirat, wenn es die Gäste einmal verlassen haben und das Liebespaar. Der frühe Morgen offenbart die Unordnung, die sie hinterlassen haben. Die Krüge zerbrochen, die Tische verstellt, die Glut erloschen, alles bewahrt die Prägung eines Durcheinanders, das sich verhärtet hat. Doch das Lesen dieser Zeichen, hatte mir mein Vater gesagt, wird dich nichts über die Liebe lehren.
[...] Ainsi l'essentiel du cierge n'est point la cire qui laisse des traces, mais la lumière. [...] So ist das Wesentliche der Kerze nicht das Wachs, das Spuren hinterlässt, sondern das Licht.
Antoine de Saint-Exupéry  
aus «Citadelle», S.20f  
Unsere Anmerkungen
a] Boethius war der als Römer in Ungnade gefallene Kanzler des Ostgotenkönigs Theoderich. Platon sagt grundlegend in «Timaios» 31b-c (S.35f): „Zwei allein gelungen zusammenzufügen, ohne ein Drittes, ist nicht möglich: ein Band muß entstehen inmitten der Zwei, das sie zusammenführt. Das schönste Band ist aber dies, das sich selbst und das zu Verbindende möglichst zu Einem macht; das aufs schönste zu vollenden, dazu ist das Zahlenverhältnis da.” Dieses Zahlenverhältnis beschrieb bereits Pythagoras als ein Liebesverhältnis.
b] ἡ ἀγάπη (he agápe) im Unterschied zu ὁ ἔρος (ho éros) und ἡ φιλία (he philía) - vgl. «E+E»: Anm.155
c] Die 6.Kultur (vgl. Mbl.7) mag erhabene Bewegungsformen der Liebe hervorbringen, allerdings auch entsprechend hohle des Hasses.
d] Das Zentralereignis des Erdenzustands (vgl. Mbl.6) kann sowohl als Entwicklungswende begriffen werden (vgl. Mbl.7), als auch als Menschheitsmysterium (vgl. Mbl.26), worin sich dem Menschen der Christus offenbart, sodass jener zum Du des kosmischen ICh wird. Diese Erfüllung jeder Liebe lässt Augustinus ausrufen: „Ama et fac quod vis. (Liebe und tu was du willst!)”; vgl. 1Kor.13. Das schwarze Gegengesetz wurde von Crowley auf Sizilien formuliert: „Tu was du willst.”
e] «On ne voit bien qu'avec le cœur. (Man sieht nur mit dem Herzen gut.)» liess Saint-Exupéry den Fenek in «Le petit prince» sagen. Wie so mancher Mensch am Beginn des letzten Jahrhunderts spürte er, dass Erkenntnis ohne Liebe zwar Tatsachen, nicht jedoch Wirklichkeiten zu erfassen vermag, weil ein Wesen und damit das Wesentliche nur in Zuneigung erkannt werden kann; deshalb richtet sich wahre Erkenntnis auf ein Subjekt, nicht auf ein Objekt (vgl. »TzN Okt.2006«). - Hierin liegt auch das Grundproblem der neuzeitlichen Wissenschaft (science), deren reduktionistischer Ansatz gerade jegliche Seelenbewegung ausschliesst (objectivation), um Objektivität zu erreichen (vgl. «E+E»: Anm.54); deshalb bleibt ihr das Wesen einer Erscheinung (Phänomens, Symptoms) verborgen. Das Wesen des Atoms zum Beispiel, der Hohlraum mit seinen Folgen (vgl. Mbl.16), ist lieblosem Forschen unerreichbar (vgl. »TzN Jän.2005«).
f] vgl. GOETHE, J.W.v.: MR79
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn200503.htm