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ZUM
NACHDENKEN:

Was man nicht wissen sollte

 

2. Ein noch viel gefährlicheres [a] Wissensgelände, das geradezu als vermint anzusehen ist, stellt das Fernsehprogramm dar. Es spielt in der täglichen Unterhaltung deshalb eine so wichtige Rolle, weil alle damit rechnen können, daß viele Sendungen von vielen anderen gesehen werden. Da also jeder Bescheid weiß, verrät die Kenntnis des Fernsehprogramms und der verschiedenen Typen von Sendungen viel über das intellektuelle Niveau und das Interessenprofil einer Person und über die Art und Weise, wie sie ihre Zeit verbringt. [b] Outet sich nun jemand als Kenner von nachmittäglichen Pöbel-Talkshows, ist er entweder ein Schriftsteller oder ein Arbeitsloser mit einem proletarischen Geschmack und wenig sozialen Kontakten, der nachmittags schon mit einem Bier in der Hand vor dem Fernseher sitzt, anstatt Shakespeares «Hamlet» im Original zu lesen.[c]

Kennt man also die Konventionen, das Personal, die Dramaturgie und die Geschichte solcher Talkshows, ist Vorsicht geboten: Man sollte es entweder geheimhalten oder als Resultat von medientheoretischen Studien ausgeben. Dasselbe gilt von Soap-Operas - es sei denn, sie würden wie weiland "Dallas" in den Status von Kult-Sendungen erhoben. Diesen Status haben sie dann erreicht, wenn sie zu ironischen Gottesdiensten von Fan-Gemeinden werden, die sich vor dem Fernseher versammeln und die nach jeder Sendung genüßlich über die neue Episode debattieren.

Als Ausdruck besonderen Schwachsinns gelten Gameshows und alle Variationen von Reality-TV wie Katastrophen-Sendungen, Shows für emotionale Voyeure mit Tränengarantie wie Appelle zur Rückkehr entlaufener Kinder, Zusammenführung lange getrennter Familienmitglieder, Betteln um Vergebung, Versöhnungsshows und Hochzeiten. In dieselbe Kategorie gehören die Harmoniesendungen der Volksmusik, Schlager- und Schnulzenfestivals, Blödel- und Spaßsendungen und die endlosen Anstrengungen, die das Fernsehen im harten Dienst der Volksverblödung [d] Tag um Tag unternimmt. Hier sollte man sich einfach zur Regel machen, nichts zu kennen. Die beste Voraussetzung dafür ist, sie gar nicht erst anzusehen. Wenn man sich aber partout nicht zurückhalten kann, sollte man in der Konversation entschlossen Unkenntnis heucheln. Das ist nicht immer einfach, und wenn alle anderen Kollegen in der Mittagspause lustvoll und engagiert die Fernsehdiskussion zwischen einem Pastor und einem Kinderschänder rekapitulieren, muß man schon eine beträchtliche Portion Selbstbeherrschung aufwenden, um sich nicht auch zu beteiligen.

Natürlich ist das Tabu gegenüber dem Fernsehprogramm gestaffelt. Als Nonplusultra (lat. Unübertreffbares) der Bildung gilt es, überhaupt keinen Fernseher zu besitzen. Wer so weit gekommen ist, braucht sich um seine Reputation keine Sorgen mehr zu machen. Wenn die Rede auf die letzte Sendung kommt und der Fernseh-Asket mit einem Kommentar an der Reihe wäre, wird er murmeln: "Ich habe leider keinen Fernseher." Er wird das kaum hörbar sagen in einem Ton der Entschuldigung, um jedem Beigeschmack einer versteckten Anklage gegen die TV-Süchtigen Normalmenschen zu vermeiden. Damit zwingt er aber die anderen nachzufragen: "Was, keinen Fernseher? Sie sehen nie fern?" Er wird wieder entschuldigend lächeln, um jeden Verdacht auf Bildungssnobismus im Keim zu ersticken und damit die scheue Hochachtung der anderen ernten - oder vielleicht auch ihren Haß: "Was? Der glaubt wohl, er sei etwas besseres!"

Aber es gibt auch eine Art von Sendungen, die man gesehen haben darf: Das sind politische Sendungen, Debatten und Magazine. Hier bietet das Fernsehen die einzige Information, die nicht trivial ist. [e] Zu ihnen darf man sich bekennen. Alles andere sollte man besser vermeiden.

Nur ausgewiesene Intellektuelle können es sich leisten, ihren gesamten Fernsehkonsum zuzugeben: Bei ihnen gilt das als Studienreise in die Domäne der Vulgarität und des schlechten Geschmacks. Wer als Gebildeter eingesteht, sich den Info-Müll oder die geschmacklose Gemütspornographie der Seelenentblößung anzusehen, tut das mit einem gewissen Stolz auf die Vitalität seines Intellekts: Er unterwirft sich auch die schmuddeligen Zonen der gegenwärtigen Welt und vermag im Schrott noch Bedeutung zu entdecken. So jemand ist imstande und stellt eine Verbindung her zwischen einer Sado-Maso-Sendung und Dantes «Göttlicher Komödie».

Dietrich Schwanitz
aus «Bildung»; S.611ff

Unsere Anmerkungen

a] als das Thema „europäische Fürstenhäuser heute”, das in dieser Satire unter 1. abgehandelt wird
b] soziale Kontrolle als Steuerrad der Kultur
c] Wer wird schon im „Kaisermühlenblues” (beliebte Wiener TV-Serie) aufgehen wollen, statt Rudolf Steiner zu studieren?
d] Das Unterdrücken des klaren individuellen Denkens als Aufgabe der Massenmedien? Ach wie negativ! Ablenken und Verdrehen, wozu? Vielleicht um eine abgestumpfte und damit leicht steuerbare öffentliche Meinung zu bewirken? Wie garstig gedacht! Ein Hai ist kein Hai, ist ein Wal. (Vermutlich war's eine Sardine.) Hütet und schützt die Pressefreiheit!
e] Im Zug stellen zwei Reisende sich vor: „Ich bin Fürst Schwarzenberg,” - „Sehr erfreut! I bin der Grosse Gott.” - „Was erlauben Sie sich? Sie!” - „Schaun's, i bin a Volksvertreter. Und wo i auftauch', rufen die Leut': ,Grosser Gott, san se scho wieda do!'”

red.17.VI.2003
WfGW, 1030 Wien / AT