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Wer sind die Kaukasier

Eine Frage angesichts des aktuellen Tschetschenien-Konflikts

Die Region des nördlichen Kaukasus entzöge sich wahrscheinlich weitgehend unserer Aufmerkamkeit, wäre da nicht der Tschetschenien-Krieg. Aus der Berichterstattung war er im Gefolge des 11.September 2001 zeitweilig verschwunden. Durch die Moskauer Geiselnahme Mitte Oktober ist er wieder weltweit in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses gerückt. Für den Durchschnittseuropäer, der fernab dieses Weltwinkels lebt, ist oft unklar, wo die Länder liegen, wer die Völker eigentlich sind, die man als "kaukasisch" bezeichnet; er hört exotische Namen von Provinzen und Ethnien, weiß aber meist wenig damit zu verbinden. Der interessierte Zeitgenosse, der ein wenig weiterforscht und auf Namen ethnischer Gruppen wie die der Abasinen, Adygejer, Lesgier, Balkaren oder Karatschaier stößt, wird sich entmutigt seine Bildungslücken eingestehen müssen. Und auf die Frage, ob die Region eigentlich zu Europa oder Asien gehöre, gibt selbst ein kleines «Lexikon der Völker Europas und des Kaukasus», wie schon der Buchtitel zeigt, keine letztgültige Auskunft.(1)

Nord- und südkaukasische Welten

West- und Mitteleuropäer werden selten einem Vertreter dieser Volkschaften begegnen. Ich selbst habe einmal einen Menschen tscherkessischer Abstammung kennengelernt. Die Dame, in Istanbul aufgewachsen, war diensttuende Zahnärztin eines Notambulatoriums in der Lausanner Innenstadt. Es gibt wohl eine weitverstreute armenische Diaspora. Ich teilte in Wien die Schulbank mit einem Armenier, der heute Großhandelskaufmann wie sein Vater ist. Die christlichen Armenier haben ja ein Schicksal , das in mancher Hinsicht mit dem der Juden verwandt ist. Es scheint aber, daß gerade jene Volkschaften des südlichen Kaukasus, die wir etwas besser kennen, die Armenier, Georgier, Aserbaidschaner, eine gesonderte Betrachtungsweise erfordern. Besonders die beiden christlichen Völker sind in Hinblick auf weitreichende geistige Impulse von erstrangiger Bedeutung. Auch das islamische Aserbaidschan dürfte Aufmerksamkeit verdienen. Im heutigen iranischen Teil dieses Landes befindet sich das mazdäische Heiligtum Takt-i-Suleiman, das durch besondere Fäden mit den Gralsströmungen verbunden ist.[a] Es scheint aber begründet zu sein, diese mehr an der Südflanke des Kaukasus angesiedelten Nationen unter der Bezeichnung "Transkaukasier" von den eigentlichen Kaukasiern, die den nördlichen Teil der Gebirgskette bevölkern, zu unterscheiden.(2)

Kaukasier im engeren Sinne bezeichnet man dann eine Vielzahl von ethnischen Verbänden, die trotz unterschiedlicher Sprachen und identiätstiftender Abgrenzungen dennoch kulturell gewichtige Gemeinsamkeiten haben. Das sind Tschetschenen, Inguschen, Tscherkessen und viele andere Gruppierungen, die in unmittelbarer Nachbarschaft miteinander leben und deren Lebensverhältnisse noch heute stark von archaischen, zum Teil vorislamischen und vorchristlichen Wirtschafts-, Rechts- und Mentalitätsformen geprägt sind. So hatten etwa die Tscherkessen im 6.Jahrhundert unter byzantinischen Einfluss das Christentum angenommen. In den nächsten Jahrhunderten verlor aber das Christentum allmählich an innerer Kraft, und das Volk kehrte zu alten animistischen Glaubensformen zurück. Erst im 17. und 18. Jahrhundert, unter Einfluss des Ottomanischen Reichs, fasste der sunnitische Islam in diesem Volke Fuß.

Eigenständige, nach Unabhängigkeit strebende Volksgruppen

Eine wichtige Gemeinsamkeit all dieser Gruppen ist das Gewohnheitsrecht ("Tore") [b], das auf archaischen Prinzipien von Nomaden und Halbnomaden beruht. Auch Tracht und Tanz, Behausung und Kost weisen auf eine weitgehende, über Jahrhunderte sich hinziehende Durchmischung der Clans und Verbände hin, die sich unter wechselnder Führung von Kriegsherren immer neu bildeten. Schwer auszumachen ist, welches Volk letztlich woher stammt. Daß viele Zuwanderungen stattgefunden haben müssen, ist offensichtlich. Manches erscheint wie ein fernes Zerfallsprodukt jenes Reichs, das sich als Großkhanat der Chasaren [c] im 7./8.Jahrhundert über ein riesiges Gebiet Südrußlands und Zentralasiens erstreckte. Das Turkvolk der Chasaren war als Führungsgruppe einer halbnomadischen Reiterföderation zum Judentum übergetreten. Vielleicht sind in dieser geschichtlichen Entscheidung Symptome eines tiefen Unabhängigkeitswillen zu entziffern. Denn das Annehmen des Judentums machte das Chasarenreich von Einmischungen seitens Roms, Byzanz' oder Bagdads unabhängig. Die sogenannten Bergjuden in Aserbaidschan und Dagestan könnten ferne Nachfahren der Chasaren sein. Diese Konversion mag eine Rolle darin mitgespielt haben, daß der Islam erst im 19.Jahrhundert als vereinigendes Band im nördlichen Kaukasus deutlicher hervortrat.

Den Islam als allein determinierend zu sehen, hieße aber den Untergrund viel älterer Kultur- und Mentalitätsformen, die aus alten turanischen [d] Schicksalen von Steppenvölkern stammen, zu übersehen. Selbst die populärmystischen Sufi-Bruderschaften in der Region decken sich offenbar vollständig mit den gewachsenen Stammesstrukturen.(3) Erst durch die blutigen Konflikte der letzten Jahre hat der ganz anders geartetete fundamentalistische, dem Sufitum eigentlich feindlich gesinnte Wahabismus [e] von Saudiarabien her zunehmend an Einfluß gewonnen.

Eine im strengen Sinne nationalbildende, übergreifende Formkraft hat sich im Nordkaukasus jedenfalls nie durchsetzen können - trotz staatlich verordneter Russifizierung und dem Gebrauch des Russischen als "lingua franca", mit der sich die unterschiedlichen Sprachgruppen untereinander verständigen.

Eines aber scheint deutlich: Angesichts des angestammten Unabhängigkeitswillens der einzelnen Gruppen, angesichts des Zugriffs der Großmächte auf die Erdölreserven und -transportwege der Region sowie angesichts der grassierenden Infektion durch islamisch-fundamentalistische Bestrebungen geht das Kaukasiertum heute - am tragischen Beispiel der Tschetschenen [f] ist dies ablesbar - einer mehr als ungewissen Zukunft entgegen.

János Darvas

1) Detlev Wahl: Lexikon der Völker Europas und des Kaukasus, Rostock 1999.
2) Siehe Ufuk Tavkul: The Ethnic and the Social Structure of the Caucasus
3) Julia Schmidt: Sufi-Bruderschaften im Nordkaukasus; siehe dazu auch den auf Recherchen vor Ort basierenden Roman über den Tschetschenien-Krieg des britischen Schriftstellers John Le Carré: Unser Spiel (1999).

aus »Das Goetheanum« Nr.46/10.XI.2002; S.850

Unsere Anmerkungen

a] siehe zB. VON DEM BORNE, G.: «Der Gral in Europa»
b] vgl. hebr.: THORA, das Gesetz der Israeliten, später Juden, welches aus den fünf "Büchern Mose" (Pentateuch) besteht
c] siehe zB. PAVIC, M.: «Das Chasarische Wörterbuch»
d] Im Gegensatz zu den kulturschaffenden Iraniern waren die Turanier "Menschen, welche sich in hohem Grade das alte Hellsehen bewahrt hatten, ... ein niederes astralisches Hellsehen" mit dem Drang, "von der Naturumgebung zu fordern, was sie zu ihrem Lebensunterhalt brauchen, und möglichst wenig zu tun, um es der Natur zu entreißen." (R.STEINER in «GA 123»)
e] eine vom saudischen Eiferer Abd al-Wahhab gegründete radikale Sekte
f] die, wie die Afghanen, in Mitleidenschaft gezogen werden namens eines hochgeblasenen "Krieg gegen den Terrorismus", der zwar kaum Terror verhindert, wohl aber das Beherrschen strategischer Schlüsselgebiete ermöglicht und obendrein von innenpolitischen Schwierigkeiten ablenkt

red.18.XI.2002
WfGW, 1030 Wien / AT