Die
zum IMPRESSUM
bietet hier eine poetische Studienhilfe an:
Eamsyne und Earasyn
IX
Vom Zeitunglesen
561} Herr Z. begab sich zum Kiosk, um ausnahmsweise eine Tageszeitung zu kaufen. Am Morgen hatte er lange mit dem Rabbi telephoniert, ihm versichert, dass die jungen Leute seinen Brief dankbar aufgenommen hatten und die schwierige Lebenswahl, die zu treffen war, gewissenhaft prüften. In trüber Erinnerung an seine eigenen Erfahrungen wäre er der Ansicht gewesen, die keimende Familie möge nicht zerrissen werden, doch hätten ihn die beiden mit ihren ernsten Überlegungen über andere Sichtweisen aufgeklärt. Man könne ja im Vorhinein nie wissen, was richtig sei, aber eine reiflich erwogene Entscheidung liesse sich auch später allemal verteidigen, selbst wenn sie sich hinterher als irrig herausstellen sollte. Sich angesichts eines begangenen Irrtums sagen zu können „Wenn ich nocheinmal in derselben Lage denselben Überblick hätte, würd' ich wieder so entscheiden!”, sei für den Menschen verdaubar, während der Satz „Ich hätte es besser wissen können!” einem im Magen kleben bliebe wie Milchkaffee. Und überhaupt wäre alles noch offen.
562} Die frischgedruckten Bögen knisterten geschwätzig, als Herr Z. behornbrillt die Zeitung aufschlug. Er hatte eine Bank im grüngoldroten Park bezogen, mit der angenehm wärmenden Vormittagssonne im Rücken. Was also las man da?(225) Schlagzeilen über die Eskalation im Osten und deren Auswirkungen, unterlegt mit Bildern, die schier nach Blut und Rauch rochen; dazu ein längeres Kommentar über das Unvermeidliche von Kollateralschäden.
563} Kollateralschäden! Was für ein Wort! Ekelhafte Umschreibung der mörder- und zerstörerischen Begleitumstände einer bewaffneten Auseinandersetzung, als ob die geplant in Kauf genommenen Schäden irgendwie seitlich der Geschichte angeordnet wären. Gemeint war nicht etwa das Leiden der Land- und Stadtbewohner im heimgesuchten Gebiet, vielmehr wurden unbeabsichtigte Verluste so bezeichnet, unvermeidbare Nebenerscheinungen wie Verwundete, Tote und verbrannter Schutt. Wer setzte solche Begriffe in Umlauf? Und wem sollte damit Sand in die Augen gestreut werden?
564} Angewidert suchte der gründliche Leser zur Kultur zu wechseln. Er überblätterte die üblichen Kommentare, Laufsteghuldigungen und Sportberichte. Im Feuilleton angekommen, vertiefte er sich in die Kritik einer Theaterpremiere. «Orgie der Gewöhnlichkeit» hiess das Stück, dessen aufdringliches Szenenphoto an die Bilder der Titelseite erinnerte. Mit allerhand Aufwand an einfühlsamer Intelligenz wurde der Frage nachgegangen, inwieweit es der einschlägig bekannten Autorin gelungen sei, der Gesellschaft die Maske verlogener Gewöhnlichkeit wegzureissen, um den orgiastischen Abgrund unterdrückter Gier offenzulegen.
565} Welche Gier? Die Gier wird durchs Fühlen bedingt,(226) überlegte er. Eine Gesellschaft, die fühlt, wenn auch verworren, könne durchaus verändert werden. Nur lehre die Erfahrung, dass jemand, dem man die Maske abzureissen versucht, erst recht unausstehlich wird, was angesichts der zunehmenden Individualisierung und ihrer Verteidigung des Privaten (227) nur zu verständlich sei. Szenisches Auffahren polternder Sprache und schriller Effekte dünkte ihn wenig geeignet, die notwendige Bewusstseinsänderung anzuregen, allem hämischen Applaus zum Trotz. Intelligenz war weissgott kein Synonym für Weisheit.
566} Er blätterte weiter. Ihm fiel eine komplexe farbige Graphik auf, die eine Versuchsanordnung und deren Ergebnis verdeutlichen sollte. Interessiert begann er den dazugehörigen Artikel zu lesen. Im Ton unumstösslicher Gewissheit wurde geschildert, wie der beschriebene Versuch endlich bewiesen habe, dass der Kosmos nach einem anfänglichen Blitz in eine finstere Phase übergegangen wäre. Irgendwelche Professoren wurden in ihrer Bedeutung gepriesen und dann kurz zitiert, nicht ohne die beiläufige Klage, dass ihre Forschungsmittel zu knapp bemessen seien. - Der Leser war im Wissenschaftsteil angelangt.
567} Was heisst eigentlich wissenschaftlich erwiesen?(228) Der Traum von objektiver (54) Wissbarkeit war noch jedesmal an seine Grenzen gestossen. Wie oft erwies sich ein behauptetes Wissen als einseitige Annahme, als vorübergehende Sichtweise! Seit die Erkenntnis in den letzten zwei Jahrhunderten zunehmend ans Dogma alleingültiger naturgesetzlicher Materialität gefesselt worden war, wirkten die derart erworbenen Kenntnisse noch einseitiger. Gewiss, in Bewegung versetzt, rollt ein Stein auf der Erde abwärts, auch auf dem Mond übrigens, obschon langsamer. Aber, waren denn die vermuteten Bedingungen dafür wirklich ehernen Gesetzen gleich, sozusagen von jeher gegeben? Und würden sie das in aller Zukunft bleiben?
568} Herr Z. blinzelte ins funkelnde Licht, das vom nahen Teich durchs kahle Astwerk gespiegelt wurde. Eine Ente schnatterte beharrlich, eine zweite pflichtete bei, eine dritte hielt dagegen. Erregt setzte ein alter Erpel an, die dritte über die Wasserfläche zu jagen. Diese breitete klatschend ihre Flügel aus, flog auf und verliess in einem weiten Bogen das Parkgelände.
Vom Reifenlassen
569} Nach aussergewöhnlich unruhigem Schlaf hatte Earasyn die Wohnung vor Sonnenaufgang verlassen, um seinem Erwerb im Postdienst nachzugehen. Lieber wäre ihm zwar ein Grundeinkommen (229) gewesen, weil er sich dann ungestörter den Aufgaben hätte widmen können, die er für wirklich wichtig hielt. Viel beanspruchte er jedoch ohnehin nicht, sodass er mit seiner Tagesarbeit noch vor Mittag fertig war und sich wieder auf der Strasse befand. Der Weg zum Wohnhaus seiner Gefährtin führte ihn am Kaffeehaus vorbei, das zu dieser Stunde einige wenige Gäste mit einem späten Frühstück verwöhnte.
570} Earasyn querte den bekannten Platz bis zur Mitte und blieb am Brunnenrand stehen. Er suchte diese Stelle gern auf, denn dort umgab ihn eine belebende Ruhe, dem darum herumdröhnenden Verkehr zum Trotz. Der Brunnen bestand aus drei aufeinandergetürmten Bronzeschalen, eine grösser als die andere, doch jede von unterschiedlicher Form. Die oberste war deutlich aus zwei Hälften zusammengesetzt mit einer erhöht aufgesetzten Krone (230) um den Mittelpunkt, aus dem die Fontäne so kunstvoll hochquoll, dass dessen nach aussen gebogenen Zacken trocken blieben.(103) Die mittlere glich entfernt einem breiten, einmastigen Schiff, während die untere an einen flachgedrückten und dadurch aufgerissenen Tetraeder erinnerte. Übervoll liessen sie das zurückfallende Nass Katarakt um Katarakt ins travertingefasste Becken rauschen.(231)
571} Da stand er nun und liess sich auf den Fluss seiner Gedanken ein. Noch hatte er sich zu keinem Entschluss durchgerungen. Ohnehin entsprach es nicht seiner Art, rasch Entscheidungen zu fällen. Dieser Brief, der ihnen gestern vorgelesen worden war - was genau hatte Reb Süsskuch damit gemeint? Welche Frist war jetzt angebrochen? Ihm selbst oblag es, herauszufinden, was zu tun war.(232) Klar, der Rabbi, Herr Z. und sie beide konnten einander auf dem Laufenden halten, Kurzbotschaften schicken oder Briefe schreiben. Aber mit der Verantwortung stand er imgrunde alleine da. Nichteinmal sie, die ihm so unausdrückbar nahe Fremde, konnte diese Last tragen helfen, im Gegenteil, um sie ging es ja gerade, um sie und um ihr Kind, das zu zeugen er nuneinmal beigetragen hatte. Den Schöpfungsprozess nachahmen: Gedanken voneinander formen! Ob das genügen würde?
572} Eine einsame Ente glitt mit weit gespreizten Flügeln heran und landete geschickt im geräumig wallenden Becken. Aus einem dutzend kunstvoll behauener Kreissegmente war es gefügt, um das Wasser zu halten.
573} Durch das Geräusch aufgescheucht, warf Earasyn einen Blick auf den Brunnen. Im Strömen blitzten an manchen Stellen rötliche Streifen auf, als fiele mit dem Wasser gelegentlich ein Blutgerinnsel herab. Täuschte er sich? Die Sonne stand im Süden; sie konnte keine entsprechende Reflexion erzeugt haben. Er hob seine Augen. Auf einer Zacke der Krone hatte sich ein Falke (233) festgekrallt; im Schnabel hielt er den schlaffen, geköpften Balg eines kleinen Nagers.
574} Der Raubvogel sah den Mann von oben scharf an, die Ente hingegen wurde geflissentlich übersehen. Sein graubraunes Gefieder glänzte stolz im Sonnenlicht, die Schwingen trug er locker angelegt, kaum dass er den langen Schwanz spreizte. In keiner Weise schien er zu fürchten, dass ihm seine Beute streitig gemacht würde, obschon er sie an dem luftigen Ort nicht verzehren konnte. Mensch und Tier verweilten in wechselseitiger Beobachtung, einer jener Augenblicke, in denen der Zeitverlauf anhält, um einen Begegnungsraum zu öffnen. Schwer auszumachen war, wer wen beeindruckte oder ob zwischen den beiden so verschiedenen Wesen gar Sympathie aufkam.
575} Plötzlich breitete der Vogel die spitzen Flügel aus, stiess von der sprudelnden Krone ab und schoss erstaunlich schnell davon. Nach längerem Verfolgen der weitgezogenen Bahn senkte Earasyn entspannt den Kopf und schüttelte die Schultern durch. Seine Züge verrieten eine Erleichterung, die mühsam genug errungen war. Allerdings wusste er noch nicht, wie er seinen Entschluss vorbringen sollte.
576a} Was ist,
bereust du jenen Flug,
der jeder weissen Taube droht?
Von den grauen ganz zu schweigen,
gierig gurrenden Versammlern,
die da landen, um zu suchen,
und nur suchen, um zu picken.
Um zu schweben?
Nein.
576b} Was ist,
wie deutest du den Flug,
der plötzlich stimmlos innehält?
Nur die Luft pfeift ihren Ärger
übers Trachten solcher Vögel,
die da fallen, um zu zielen,
und nur zielen, um zu töten.
Um zu warnen?
Nein.
576c} Was ist,
wer hindert solchen Flug
und weist die Absicht kühn zurück?
Die für Vogelkunde schwärmen,
werden zu Bereichen eilen,
wo sie picken, um zu finden,
und nur finden, um zu wissen.
Wen zu retten?
Nein.
576d} Was ist,
ob irgendwo ein Hahn
nach einer weissen Taube kräht?(234)
Von zwei Kampfhähnen
577} Vorbei am Zenith trottet die Bärin den Zwillingen hinterher, die sich dem Westen zuneigen. Unter ihr ruht der mächtige Löwe, dessen Junges sich an der schattigen Mähne festkrallt. Der Krebs, der vor ihm rückwärts schreitet, reizt ihn nicht zur Jagd; Meeresfrüchte verträgt er nicht. Und das wirklich reizvolle, hauchzart goldene Haar der Berenike,(235) den Göttern zu Handen,(236) schwebt glücklicherweise hinter ihm her. Ein fahler Streif gegen Südosten kündigt den Sonnenaufgang an. Darüber funkelt ein roter Stern, einsam, da sein Hintergrund bereits verblasst.
578} Um die Hügel verbreitet sich ein erster Schimmer. Der Bär liegt auf duftendem Laub und blinzelt freundlich zur Kornähre (151), die genau im Süden leuchtet. Dann gähnt er ausgiebig den Stern weiter oben (152) an. Neben ihm regt sich die Hirschkuh, hebt den eleganten Kopf und wendet ihn den Himmelsbrüdern zu. Ihre dunkelgrossen Augen schweifen über den Horizont nach Osten. Als sie den roten Stern erblickt, zuckt ihr der Nackengrat.
579} „Wie kräftig er heute scheint!”, flüstert sie. „Wer?” fragt der rauhe Geselle und wendet ihr seine kleinen Ohren zu. Sie weist mit ihrem sanften Maul nach Südosten. „Ah, der Eiserne”,(20) versetzt er: „Ganz schön scharf für diese Morgenstunde!” „Wie ein Falkenauge”, murmelt sie. Die beiden versinken wieder in schweigende Betrachtung des anbrechenden Tages. Der Schimmer ist heller geworden. Im breiten Tal lassen sich allmählich die Waldstücke von den Wiesen unterscheiden. Der Fluss beginnt matt zu glänzen. Ein paar Lichter blinken herauf; um diese Zeit schlafen Bauersleute nicht mehr. Von irgendwoher weht ein feiner Wind. Die zwei Gefährten frösteln kaum, da bisher kein Schnee den Hochwaldboden bedeckt, wiewohl der Winter fortgeschritten ist.
580} „Eigentlich klar, warum er derart strahlt”, brummt der Braunkittel versöhnlich: „Schliesslich ist er zuhause; sein grosser Freund (154) steht in der Nähe.” „Den seh ich nicht, es ist zu hell”, erwidert die Felldame unwillig: „Ehrlich gesagt, bin ich auch gar nicht scharf drauf.” - „Hmmnoja, der tut uns nichts, meine Liebe!” - „Uns nicht, da hat mein Bruder recht.”
581} Der vom nachtfeuchten Pelz Beschwerte stemmt sich mit den Vordertatzen hoch. „Sage mir, Schwesterherz”, flötet er, so zart er eben kann: „was bekümmert dich schon wieder?” Die Hinde sieht den breit vor ihr sitzenden Bären arglos an: „Mein Bruder weiss genau wie ich, welche Kräfte in Natur und Mensch angeregt werden, wenn die zwei Roten beisammenstehen, noch dazu am Morgen, sodass sie wie zwei Kampfhähne vor der Sonne ziehen.”(172) „Das mag so sein”, nickt er: „Doch muss der offenbare Geist der Scheidung nicht sofort Widerstreit bedeuten.” „Nicht, wenn er durchschaut wird”, gibt sie zu, um gleich darauf sorgenvoll zu äussern: „Was aber, wenn er unerkannt bleibt?”
582} Das freilich ist die grosse Frage. Liegt das Erkennenkönnen doch weniger am Vermögen oder Nichtvermögen; vielmehr kommt es auf das Wollen an. Die stets zu allerlei Lauten des Behagens oder Missfallens bereite Schnauze bleibt eine Weile gesenkt, geschlossen.(237) Ihr Träger weiss nur zu gut, wie seine redlich erworbene Bequemlichkeit dieses Erkennenwollen immer wieder im wohligen Heu versinken lässt, wie es Bärenkinder zurecht lieben.(203) Oder hindert ihn eher jener Nebel, der seinen Schädel so oft einhüllt, wenn er klar denken will? Ohne das Gespräch mit seiner zierlichen Freundin wäre er jedenfalls verloren.
583} „Erinnerst du dich an gestern Abend”, nimmt er den Faden wieder auf: „an den strahlenden Stern im Blassblau nach dem Untergang?” „Du meinst die Kupferspenderin (16) im Ziegenfisch, der dem Bogenspanner folgt”,(155) lächelt die Kuhäugige. Wie könnte ihr sein Versuch, ihre Sorgen abzulenken, entgehen? „Ja, sie stand weissgolden am Abendhimmel!” „Weissgolden, oho”, grummelt er. Dann fällt ihm ein: „Hej, dass sie gleich nach dem Verschwinden der Sonne zu sehn war, zeigt's nicht den Abstand, den sie zu den stolzen Gockeln wahrt?” Sie horcht auf. War's nicht ein bestimmter Abstand? Vorsichtig tastet sie ihre Erinnerung ab: „Ein Fünftelschein,(238) glaub ich.” „Auch eine Spannung!” grinst er zufrieden.
584} Die kluge Schöne beginnt zu verstehen, worauf ihr Freund hinauswill. Mag sich so mancher Lichtstrahl etwa im Viertelschein (238) verstärken, in einem anderen wird er wiederum sublimiert. Aufs Verhältnis, auf die Beziehung kommt es an! Fällt der eine Akkord notwendigerweise dissonant aus, so bringt der andere konsonantisch die ersehnte Harmonie, mit ein wenig Geschick sogar Transzendenz. Vor lauter Beschäftigung mit den beiden wilden Genossen hat sie übersehen, dass kein Stern für sich allein steht. Und wie kein Stern, so auch kein Mensch.
585} Das plötzliche Aufwallen von Wärme lässt die Nachtbilder verblassen. Hoch oben begrüssen zwei kreisende Adler den prasselnden Feuerball, unhörbar alle drei.
Von Seelenreisen
586} Rabbi Elieser fiel es nicht schwer, sich fortzubewegen. Hatte er erst den alten Leib umsichtig gebettet, sodass ihm dieser nicht abhandenkommen konnte, dann brauchte er sich lediglich auf einen Ort oder eine Person zu konzentrieren. Alles weitere besorgten die weitverzweigten, miteinander verschränkten Lebensströme, deren Feldern er sich anvertraute. Zurückkehren konnte er ohnehin, wann es ihm beliebte, oder wenn die Rabbanith ihren Eli benötigte.
587} Die gesamte Kille (132) raunte, ein Engel würde ihn geleiten. Er liess es dabei bewenden, obwohl er wusste, dass die Engel mit seinen Fahrten wenig zu tun hatten. Froh wären die, wenn sie das auch noch bewirken müssten, ha! Viel eher kam es auf den doppelten Kunstgriff an, sich eine akkurate Vorstellung vom Reiseziel zu bilden und gleichzeitig die Lebenskräfte zu lockern. Das war nicht ganz einfach. Dann aber segelte die losgebundene Seelenbarke gedankenschnell im unermesslichen Ozean (239), ohne dass etwas nennenswert schiefgehen konnte.
588} Früher, ja früher, als er noch ein recht unsteter, neugierer Mann gewesen, da war es mitunter vorgekommen, dass er woanders ankam als gedacht. Einmal zum Beispiel hatte er sich aus gewissen Gründen nach Damaskus (240) begeben wollen. Seine Vorstellung von jenem Ort hatte jedoch den Gegebenheiten so wenig entsprochen, dass er gehörig übers angestrebte Ziel geschossen war. Eine Weile war er ziemlich unruhig herumgeirrt, unter seltsam echoartigem Gelächter, ohne sich die fremde Gegend erklären zu können, in welche er geraten war: ein trockenes, steinübersätes Tal zwischen hohen Gebirgsketten mit ewig vereisten, bald wolkenumhüllten, bald überscharf klaren Gipfeln, offenbar jeder ein Götterthron in einsamer Erhabenheit; herumgeirrt also, bis er sich in zwei kräftigen nackten Armen wiedergefunden hatte, die ihn aufgefangen, worauf er mit einer lächelnden Verneigung begrüsst worden war. Auf diese Weise hatte er den Lama kennengelernt, der damals noch nicht Löntschen genannt wurde.
589} Wie gesagt, Reb Elieser fiel es nicht schwer, sich fortzubewegen. Bereits früh war ihm nachgesagt worden, dass er über ein „besonderes Vermögen” verfügte. Ihm selbst war dies nicht aussergewöhnlich erschienen, doch innerhalb der Gelehrsamkeit, erst recht der Orthodoxie, hatten seine Fähigkeiten zu einigem Befremden, ja Aufruhr geführt und geradezu natürlich Ablehnung nach sich gezogen. Wäre der gütige, alte Oberrabiner, geliebtes Haupt seiner Schul, nicht für ihn eingetreten, wer weiss, wo sich der junge Süsskuch damals wiedergefunden hätte! In einer Moschee, eh?
590} Heute gelüstete es den Schriftgelehrten, einmal mehr in den Orient zu reisen, Rauch und Pulverdampf zum Trotz. Dort wirkte nämlich ein Maulana, dessen Tafsir er ebenso schätzte, wie er dessen Tawil bewunderte.(241) Diesen glänzenden, wiewohl bescheidenen Ausleger der jüngeren Schrift aus älterer Erkenntnis wollte er bei Nacht aufsuchen.(242) Nachdem er sich mit seiner Frau abgesprochen und ein Glas klares, kammerkühles Wasser zu sich genommen hatte, legte er sich hin, wie er das gewohnt war und tunlich fand. Immerhin handelte es sich um die Lagerung seines braven Körpers, der ihm schon so viele Jahrzehnte treue Dienste leistete. Zweiundsiebzig ruhige Atemzüge,(243) und der Rabbi schien tief zu schlafen.
591} Der Schwere entbunden, vergegenwärtigte sich Elieser jenen mit weisslichem Granit ausgelegten Iwân, vor dessen grosser, mosaikgeschmückter Fensternische sich die Medresse des bedeutenden Lehrers allfreitäglich zu versammeln pflegte. Handkehrum fühlte sich der Reisefertige fortgezogen von einem lebendigen Sog und über den Erdkreis gehoben. Unter ihm flohen, in eigentümlich milchiges Licht getaucht, breite Landstriche und Wasserflächen hinweg. Nach Queren eines schroffen Gebirgszuges erkannte er die Dächer und Turmspitzen der bekannten Stadt sowie die stattliche Flachkuppel, welche die Gebetshalle überwölbte. Durch den Hufeisenbogen geglitten fand er sich bald auf einem festen Kissen wieder, das ihn unter einer Anzahl bunter, hockender Hörer erwartete. In lockerem Halbkreis umgaben sie den grau gewandeten, einen schwarzen Turban tragenden Meister, ein Zeichen seiner Zeit, und lauschten schier atemlos den melodisch verdichteten Worten.
Von anverwandten Büchern
592} Hielt inne im Sprechen, el-Hakîn, schaute auf, und aus seinem Antlitz leuchtete die Gelassenheit des Glaubenden ob der Zuversicht des Hoffenden. Sodann erfüllte seine kehlige, gleichwohl helle Stimme die Nische: „,Und siehe, dein Herr, wahrlich, er ist der Mächtige, der Barmherzige. Und da dein Herr Mûsâ rief: Gehe zu dem sündigen Volk'.(244) Was, ihr Lehrlinge, will dies bedeuten?” Keiner der Hockenden getraute sich, einen Satz zu erwidern. Verwirrt schwiegen sie auf diese seltsame Wendung. „Geht getrost in die Gärten”, fuhr der Pîr fort: „und kehrt wieder, wenn ihr Antworten gepflückt habt!” Wortlos erhob sich ein Student nach dem anderen, um sich zu verbeugen. Ein jeder wusste, dass er für heute beurlaubt war.
593} Der Rabbi schmunzelte, als der Maulana über die verlassenen Kissen zu ihm blickte. Die Herzenswärme, mit der er willkommen geheissen wurde, erfüllte sein ganzes Wesen. Beide verneigten sich im Sitzen gegeneinander. Auf die lautlose Frage, welch guter Wind ihn herbeigeweht hätte, versetzte er in gleicher Weise, er hätte sich von einem kalten Nordwester herblasen lassen, denn die Zeitumstände wären beunruhigend, weshalb er wiedereinmal um einen Austausch einkäme.
594} ,Allâh hat die schönste Geschichte hinabgesandt, ein Buch in Einklang mit Sich, eine Wiederholung. Vor Ihm schrumpft die Haut derer zusammen, die den Herrn fürchten. Alsdann glättet sich ihre Haut und ihr Herz bei dem Gedenken Allâhs. Das ist Allâhs Leitung, mit welcher Er leitet, wen Er will, und wen Allâh irreführt, der hat keinen, der ihn leitet'.(244) Heitere Dankbarkeit sprach aus der Geste, mit dem der Diener der Alten Schrift eingeladen wurde, näherzurücken.
595} Die den Herrn fürchten ... Elieser musste an Sussja denken, den liebenswerten, aber auch an Rabi'a,(245) die wunderliche. Als Antwort sann er den Satz: ,Er gab an Mosche, als Er mit ihm auf dem Berge S'inai zuende geredet hatte, zwei Tafeln der Vergegenwärtigung, Tafeln von Stein, beschrieben vom Finger Gottes.'(246) Mehr brauchte es nicht, um sich der Einladung würdig zu erweisen. Er richtete sich auf und sein Gegenüber erhob sich ebenfalls. Sie begannen zu wandeln, auf und ab zwischen den Säulen.
596} Dreimal durchmassen die beiden den Iwân und verständigten sich über den Stand der Ereignisse. Keiner von ihnen hiess die Lage gut, allein sie hüteten sich, Verurteilungen in den Raum entweichen zu lassen wie üble Winde. Aus verschiedenen Blickwinkeln erwogen sie vielmehr die Umstände der kriegsbedingten Taten und Leiden. Gereifte Denker, die sie waren, gingen sie ein dutzend Weltanschauungen, Ismen aller Art, durch, um die jeweilige Beleuchtung des Geschehens zu erfassen. Nicht nur die von ihnen wertgeschätzte Logik und Empirik wandten sie bei ihren Überlegungen an, sondern auch so entlegene Fertigkeiten wie etwa Gnosis und Transzendenz.(247) Lebten ihre Seelen nicht aus dem Erfahrung gewordenen Studium anverwandter Bücher und Kommentare? Wie sie's auch wendeten, sie kamen zum erprobten Schluss, demnach eine Lawine, Schnee oder Stein, als unabwendbar zu betrachten sei, wenn sie einmal zu Tal donnere. Soll denn das Unvermeidliche geleugnet werden, was ist Isma'îl, Jisra'el?(248) Notwendigerweise entflieht kein Mensch seinem Schicksal, heisse es Kismet, Miqreh oder Karma, oder wie die Glutäugigen sonst noch sagen mochten. Die Gegenwart erfordert, denen Trost und Kraft zu spenden, die ins Kämpfen verwickelt worden sind, schuldlos oder nicht. Beide Gelehrte erklärten sich bereit, aus ihrer Hoffnung zu handeln, ein jeder seiner Schrift nach.
597} Die feingeformte Kopfbedeckung glich einer Kohlenkrone.(249) ,Er ist's, welcher hinabgesandt hat die „Ruhe” in die Herzen der Gläubigen, damit sie zunehmen an Glauben zu ihrem Glauben -(250) Imam bijawarim be aghazefasl-i sard!'(251) Die Abendsonne brachte die Fensternische zum Glitzern. Das Mosaik war indes nicht gänzlich unverdeckt geblieben. Eine tiefblau verschleierte Magd schaute aufmerksam dem gedankenvollen Schreiten über die hellen Steinplatten zu. Auf die hohe Stirn fiel ihr eine Locke schwarzen Haares. Zu ihren Füssen stand ein Kübel; in der Hand hielt sie einen Besen, dem die Borsten fehlten.
Vom Vertrauen
598} Die Eingangstür fiel mit dem gewohnten Klicken ins Schloss. Noch wogten die Wellen der letzten, innigen Umarmung durch Eamsynes lebendige Seele. Die Wehmut in ihrem Gesicht wich allmählich gefasster Entschlossenheit. Das Für und Wider die Teilnahme am Krieg hatte sie mit dem jungen Vater gemeinsam durchgedacht und besprochen. Ihrem verstorbenen glich er tatsächlich nur dem ruhelosen Fragen nach! Seine für sie so schmerzliche Entscheidung, der Einberufung Folge zu leisten, konnte sie zur Not nachvollziehen; die Kameradschaft mit dem widerwärtig Umtriebigen, der sie derart schändlich genötigt hatte, blieb ihr hingegen unbegreiflich. Was mochte ihr Gefährte an jenem verschlagenen Gewaltmenschen finden? Eine Fremdheit begann zwischen ihnen zu keimen, die ihr Sorgen bereitete. Dennoch, er war der Vater ihres Kindes!
599} Vater ihres Kindes, ihm hatte sie sich ohne Vorbehalt geöffnet. Nicht ein Zweifel war ihr gekommen. Hatte sie nicht schon bei der ersten Begegnung in jener Wohnung eindeutig ihrer beider Verbundenheit gespürt? Das konnte sie nicht vergessen. Damals hatte sie in ihr Buch geschrieben:
Schauend erkenn ich bewusst manches vom flutenden Leben,
mög ich vertrauen (252) jedoch, wo mir der Durchblick verwehrt.
600} Und jetzt, war ihr nicht der Durchblick verwehrt? Der Rabbi hätte wohl gesagt, die Frist zu vertrauen sei gekommen. Vertrauen hiess die Hoffnungskräfte anfachen, sie mit den Glaubenskräften in Fügung bringen, wie etwa der G-Dur- mit dem A-Moll-Dreiklang harmonisch zusammenklingt; hiess die Seele gleichmässig spannen und lösen im Atem des Tuns; hiess alle Argumente zusammenführen in den Grundton des Ja. Das Leben selbst beruhte auf Vertrauen, das Hereinrutschen ins Irdische ebenso wie das Hinausschreiten.
601} Zwar hätte ein Spitzbart einmal gemeint, Kontrolle sei besser.(253) Zu welch grausamen Auswirkungen diese sich bis in engste Mitmenschlichkeit ausdehnende Parole geführt hatte, war vierunddreissig Jahre später ununterdrückbar öffentlich geworden. Nach weiteren sechsunddreissig Jahren hatte jenes System organisierten Misstrauens ausgedient, worüber anderenorts lauthals gejubelt worden war. Zu Recht?(254) Jedenfalls wurde danach die Angst vorm Zusammenstoss irgendwelcher Zivilisationen angeheizt,(255) ein Misstrauen, das bald zur Panik vor finster bebarteten Gestalten hochloderte. Überhaupt scheint Angst der öffentlichen Meinung geradezu sinnliche Reize zu bieten. Obendrein führt sie, der Kontrolle wegen, zu allerlei praktischen Gesetzen. Wehe den Bärtigen!
602} Eamsyne kam es nie in den Sinn, etwas zu kontrollieren, was nicht ihrem eigenen Bereich angehörte. Ihre Gedanken gehörten ihr; die überprüfte sie, so gut es ging. Desgleichen beobachtete sie ihre Gefühle wie Willensimpulse. Und sie behielt das im Auge, wofür sie die Verantwortung übernommen hatte.(256) So sehr sie jedoch Earasyn liebte, er gehörte ihr nicht. Kein Mensch konnte ihr gehören - wem schon! Also wollte sie ihm vertrauen, wollte ihrer beider Schicksal trauen.
603} Mutter hatte ihr wiederholt ein altchinesisches Klangmandala vorgespielt. Stets war sie dabei vom Mitte schaffenden Kuang über G ausgegangen und hatte um dieses herum mit nördlichem Jü über E, östlichem Küo über H, südlichem Dschi über D und westlichem Schang über A pentatonisch improvisiert. Das sich zusammenziehende, weil unterbrochene Jin verknüpfte sie mannigfaltig mit dem sich ausdehnenden, weil durchgehenden Jang zu immer neuen Fügungen von Paaren, dann von Dreiergruppen, die sie ihrerseits wiederum paarte.(257)
604} Auf diese Weise harmonisierte sie gleichmässig den Erdentag (19) mit wässrig kalter Nacht,(21) hölzern feuchtem Morgen,(17) feurig heissem Mittag (20) und metallisch trockenem Abend,(16) um das tätige Fleisch mit der sorgenvollen Haut, den ungestümen Muskeln, dem heiteren Haar und den bedächtigen Knochen in belebten Einklang zu bringen. Ihrem Spiel gelang es immer wieder, die vernünftige Fünf mit der regsamen Eins, der unbekümmerten Drei, der aufgeschlossenen Zwei und der sinnenden Vier zu versöhnen, Ausdruck ihres Vertrauens in das Leben an sich,(258) unabhängig davon, wem sie begegnet, was ihr zugestossen war.
605} Zugestossen war Mutter schliesslich der Tod in frei gewählter Einsamkeit. Oder hatte sie lediglich ihren Gesang transponiert?
Vom Einsatzflug
606} Im rundum gepolsterten Bauch der gewaltigen, ocker und braun gemusterten Maschine, die schwerfällig brausend nach Süden abhob, wurde den Freiwilligen die Lage klargemacht. Sie erhielten eine Einweisung in den Einsatz, dessen Ziel im Wesentlichen darin bestehen sollte, die Verbindung zur kämpfenden, sich rasch in einer Bergwüste bewegenden Truppe auszubauen und zu erhalten. Da es sich um eine UNJOA,(116) eine United Nations Joined Operational Activity, handelte, sollte als Einsatzsprache jenes einfältige, kürzeldurchsetzte Englisch dienen, dessen Kenntnis sogar von polnischen Unteroffizieren erwartet werden durfte. In engem Halbkreis umgaben die Soldaten den gelbgrün gewandeten, ein schwarzes Barett tragenden Hauptmann, ein Vorbild seiner Einheit, und lauschten den gegen den Lärm angebrüllten Worten.
607} Eingepfercht zwischen ihnen hockte Earasyn auf seinen Sachen. Ein dumpfes Weh kroch in ihm hoch; es glich weniger einem Abschiedsschmerz als vielmehr einem unergründlichen Zweifel. Wohin der Flug auch trug, die Richtung kam ihm falsch vor. Angst verspürte er nicht; auch machte er sich wenig Sorgen um sein Leben. Man würde sie nicht in skirmishes einsetzen, schon gar nicht house-to-house. Unter fire würden wohl keine Kabel verlegt werden, höchstens unter friendly fire, und für mines waren sie nicht zuständig. Obendrein war ihnen zugesichert worden, dass sie bald von Canadians ersetzt würden, oder von Peruvians.
608} Wem schauen wir auf die Finger, wenn es kracht, dem Täter oder dem Opfer? Oder schauen wir lieber weg? Vielleicht kommt letztlich keine andere Täterin als die Natur in Frage. Wird ebendiese Natur jedoch nicht zunehmend vom Menschen bestimmt? Er sah sich im gerippten Aluminiumzylinder (259) um. Wen hier drin könnte diese Frage interessieren? Ein Gesicht ausdrucksloser als das andere! Freilich vermied er, auf sein Vis-à-vis zu blicken, wusste er doch nur zu gut, wer dort auf den Zeltsäcken ausgestreckt lag und schlief wie ein boy scout, der zum jamboree flog.
609} Als ihr Offizier geendet hatte, machten es sich die Funker bequem. Earasyn schob sich an eines der wenigen kleinen, ovalen Fenster, die ins Leichtmetall genietet waren. Unter ihm funkelte die Stadt in Myriaden weisser Lichter mit orangen Streifen und eingesprenkeltem Blau; rotes Blinken zeigte die Verteilung der Türme und anderer Hindernisse an. Auf Augenhöhe begleitete ein beruhigend regelmässiges, grünes Blitzen das Darüberhinwegziehen. Er dachte daran, wie ihm Eamsyne einst die Farben als ihre Freunde geschildert hatte. Ihren mit sanft eindringlicher Stimme vorgebrachten Beschreibungen hörte er stets voll Anteilnahme zu, konnte er seine Liebe ja dadurch besser begreifen. Jetzt würde ihm die rätselhafte Jungfrau-Mutter (260) eine Weile lang nichts mehr schildern. Das Lichtermeer verschwand aus seinem Gesichtsfeld; er wandte seinen Blick dem gleissenden, horizontbeherrschenden Abendstern (16) zu.
610} Das Wunderwerk der Technik röhrte in die Nacht. Ausdauernd zischend drückte es gewärmte und gefilterte Luft in seinen vibrierenden Bauch. Die Notbeleuchtung liess nur Umrisse darin erkennen, denn die Soldaten sollten schlafen. Tatsächlich drückten nur zwei oder drei ihr Gesicht an die Luken, um den mondlosen Himmel über der dunklen Erde zu betrachten. Plötzlich kippte der Abendstern nach unten weg. In einer behäbigen Kurve drehte die Maschine gegen Osten ab.
611} Den Bereich der Vögel hatte das geflügelte Untier tief unter sich gelassen. Vier zum Rasen getriebene Propeller schraubten es in die klare Höhe. Die Motoren hinterliessen schmierige Schwaden in der dünnen Luft; bis hier herauf verbreitete sich der raffinierte Gestank des aus Erdhöhlen gepumpten Öls. Hinundwieder wurde das Monstrum von einer Turbulenz durchgeschüttelt, als ob sich aufgestörte Riesen einen derben Spass erlaubten. Dann fing es sich wieder und glitt brummend auf eiskalter Strömung dem Einsatzziel zu.
612} Earasyn fiel ein, dass jede Sekunde zehntausende solcher Motoren, schraubende und fauchende, ihr Abgas in die Atemhülle des Planeten prusteten. Jede Sekunde, so hatte er gelesen, würden sich rund zwei Millionen Menschen in der Luft fortbewegen, nicht zu reden von all den Frachten, die keine zeitraubenden Transportwege duldeten. Zeit, wem raubend? Den Wirtschaftstreibenden? Krieg war ohne Zweifel ein Wirtschaftsfaktor, bahnbrechend destruktiv. Die heute Nacht freiwillig in diesem Flugzeug verbrachte Zeit also? Time-consuming beneath the stars. Blitz um Blitz gab das grüne Licht ihre Position unter den Sternen an. Langsam begann er, die Finger zum grossen Gebet zu bewegen.(261) Dabei legte sich der Sturm seiner Bedenken.
613} Den Blick ins Leere gerichtet, stieg ihm das erhabene Bild des Himmelsjägers (50) in der Seele auf. Am Gehänge seines Gürtels glüht das Leben.(122) Schnuppernd versichert sich der Hase zwischen seinen Füssen, ob ihnen die Taube auch folgt. Die Kriegerin (262) hingegen lacht über die ängstlichen Vorhaltungen derer, die sich nicht aufs Wasser trauen, und pfeift dem sehnigen Hund, dessen feuchte Schnauze (263) im Dunkel dreimal so hell glänzt. Von oben wittert die Bärin das Geschehen. Ihr Auge weitet sich zu einem Bernsteinbrunnen,(168) aus dem eine Träne quillt.
614} Auf einmal fing ein penetrant getaktetes Zirpen an, in die gelassene Ruhe zu sickern. Aus der Geräuschkulisse im ausgepolsterten Aluminiumrumpf bohrte es sich derart beharrlich in sein Gehör, dass er endlich anfing, dessen Quelle zu suchen. An der gegenüberliegenden Bordwand lehnte sein Waffenbruder mit geschlossenen Augen neben einer Luke. Er hatte sich Ohrenstöpsel angelegt, deren Drähte zum disc-man auf dem Schoss führten. Schräg hinter seinem abwesend nickenden Kopf blitzte die rote Positionsleuchte aus der eisigen Kälte herein.(264) Den hässlichen, aggressiven song, by Jingo, den kannte er! Wie ging der Text nur schnell? Und dann, bingo, verstand Earasyn die lyrics.
615} I hate JayGee
Though JayGee wants me -
Stealthly sprayed gee
It may be carefree!
Be it only,
Just only on this wall,
it looks a lonely
And stonedly shouted call.
Would ya like JayGee
If JayGee sucked ye?
It's easy to stray gee,
But may she hold ye,
JayGee, JayGee, JayGee,
Though not for free.(265)
616} Angeödet sah er hinüber. Naja, ein favourite seines comrade's! Hatte der wiedereinmal jene Pillen genommen? Ein lächerlicher Schüttelreim drängte sich in sein Bewusstsein: Ich muss jetzt in den Birkenwald,(16) denn meine Pillen wirken bald. Vielleicht flogen sie ja gerade über Birkenwälder! Dieser Gedanke heiterte ihn auf. Er stellte sich vor, wie herrlich es wäre, am Fallschirm in einen Birkenwald zu sinken, während die Flugzeugmotoren in der Ferne verhallten.
Von Rückständen
617} Einer orangeroten Statue gleich stand der Lama auf seinen Stab gestützt im Torbogen der Herberge „Lotosnacht”. Verkniffenen Auges blickte er zu den dunstigen Kämmen, die den fernen Horizont bekränzten. Rechts von ihm grünte ein Mangobäumchen, zu seiner Linken glühte eine späte Rose. Er spürte den warmen Finger der aufsteigenden Sonne zwischen seinen Schultern; die Morgenbrise hatte sich gelegt. Eben war der vielstimmige Vogelgesang verklungen. In der linden Luft des jungen Tages schien die Welt aufs Neue geboren. Er atmete dankbare Freude, denn immer noch drehte sich der Planet in unerschütterlicher Treue.
618} Grellweisse Kondenzstreifen durchzogen das strahlende Blau über seinem kahlen Kopf. Hohe Winde fingen damit an, sie zu zerfleddern. Bald bildeten die wirren Fächer einen eigenen Dunst, den natürlich zu nennen nur benebelten Häuptern einfallen mochte. Wolken waren das, die keine Schatten warfen,(266) ein Hohn auf die hingepinselte Grazie der Zirren. Darüberhinaus roch der Geschulte das kaum Riechbare, roch, was in jenen Rückständen lauerte.
619} Im Gegensatz zu anderen Kulturmenschen las Lama Löntschen keine Zeitung. Überhaupt las er nur wenig, seit er sein Kloster am frischen Fluss (134) verlassen hatte. Was die Welt im Grossen oder Kleinen bewegte, war ihm jederzeit bewusst. Wie dagegen die Handelnden hiessen, liess ihn gleichgültig, ebenso das, was sie zum Besten gaben, oder der Rang, den sie bekleideten. Was Wischnu aufbaut, zertanzt Schiwa, wer ihm auch dabei dienen möge; und aus den Trümmern formt Wischnu mit seinen Getreuen ewig lächelnd das Neue. So sagten die Menschen in diesem Land, sagten so und kümmerten sich kaum darum.
620} In den scheinbar harmlos herabsinkenden Rückständen lagerte die unbeachtete Verantwortung hochgemuter Zeitgenossen, welche sich nicht Willens zeigten, den Preis ihres Tuns zu bedenken. Wie wollten die Menschen ihrem Schicksal entrinnen, da ihre Selbstvergessenheit derart offenbare Blüten trieb?
621} Ein Hauch von Lachen huschte über die wettergegerbten Züge des Lamas. Die behutete Zierde der Synagoge würde sich nicht mehr in einer der Metalltauben herbeitragen lassen. Derlei Eskapaden brauchte der nicht mehr. Diese Art des Reisens hatte der Freund seinem Schutzbefohlenen überlassen, dessen Weib die Ankunft einer weiteren Seele erwartete. Einer jungen Seele, einer alten?(267) Der erfahrene Mönch lenkte seine Aufmerksamkeit in die namenlose Stille; Gesicht, Geräusch, Geruch verebbten. Von jenseits der Berge gluckste ihm Kinderlachen entgegen, unschuldige Erwartung des Kommenden.
Vom Verdienen
622} Das akkurat gedruckte Titelbild zeigte die offene Heckklappe eines grauen Transporthubschraubers auf gelbem Sand, davor grinsende, gegen die Sonne geschützte Behelmte. Angeekelt liess Herr Z. die Zeitung, die jemand auf dem Edelstahltresen vergessen hatte, liegen. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was darin zu lesen war. - Eine Tötungsmaschinerie zu entfesseln war im zutiefst zuwider. Man würde sich lediglich verteidigen, trompetete die Schlagzeile, man sei angegriffen worden. Ništa ne! Wie, wenn ihn eine Mücke stach und er dafür der Serviererin hinter der Theke eine Ohrfeige gäbe oder am besten gleich die ganze Einrichtung zerschlüge? Weil sie zum Beispiel verabsäumt hätte, die Kantine mückenfrei zu halten, wie? Er sah sich um. An den Tischen sassen die Studenten friedlich klappernd beim Mittagessen in einer Wolke von Stimmen. Ob man auch sie mit solchen Argumenten aufhetzen könnte? Was für eine Welt!
623} Und doch war es eine Welt, in der schwarzer Kaffee verführerisch duftete! Der Vormittag war anstrengend gewesen, nichts als Störungen der sowieso mühsamen Schreiberei. Dass die Leute sowenig selber suchen konnten! Die verlorene Arbeitszeit ersetzte ihm niemand. In der Hochschulbibliothek war überdies genug zu finden; nicht zu denken an die detaillierten Informationen, die ein ans tolle Netzwerk angeschlossener Bildschirm zeigte, wenn jene durch passende Anfragen aus dem permanent wachsenden Wissensbilderbrei herausgesogen würden.(268) Diese bereits ob ihrer Unüberschaubarkeit faszinierende Flut an mehr oder weniger verwertbaren Einzelheiten hatte ihn ebenfalls bewogen, die fingerfertige Tipp- und Klickerei zu erlernen, welche den gebildeten Menschen heutzutage auszeichnete. Tja! Er hob die kleine braune Tasse an den Mund und nippte an den köstlich bitteren Schaumbläschen.
624} „Schon gegessen, Herr Professor?” Auf dem Barhocker neben ihm stand eine grosse Skriptentasche, deren Trägerin ihn freundlich anlächelte. „Ah, meine Liebe, sehr schön, sehr schön, setzen Sie sich!” Ob sie nicht störe. „Ali ne, ne! Was wollen Sie aufstören einen düsteren alten Mann?”
625} Eamsyne stellte ihre Tasche auf den Parkettboden und nahm Platz. Auf die Frage, wie es ihr unter den gegebenen Umständen gehe, antwortete sie, dass Earasyn abgeflogen wäre und sie sich nun auf den Diplomabschluss konzentrierte. Ansonsten blickte sie der Geburt ihrer Tochter entgegen. „Geburt. Gelassen?” Sie lachte auf: „Was heisst schon gelassen, lieber Herr Professor! Aber ich habe eine Wohnung und obendrein genug beisammen, um die ersten Jahre nicht dem Geld nachrennen zu müssen.” „Sie Glückliche”, seufzte der nicht eben fürstlich entlohnte Philosoph.
626} „Sie sollten nicht für Geld arbeiten müssen”, regte sich ihr Unmut: „Für das, was sie alles leisten, müssten die Ihnen ein ausreichendes Fixum zahlen!” Das wäre leicht gesagt, versetzte er, aber geschenktes Geld läge nicht auf der Strasse. Wenn überhaupt, gäbe es Subventionen nur für die Fächer, von denen Innovationen erwartet würden. Ionen wären innovative Teilchen, negativ geladen oder positiv, haha. Als fortgejagter Antikenkundler müsse er sich nach der Decke strecken, und die sei halt dünn. „Aber ihre grossartigen Fähigkeiten werden geradezu verheizt”, rief sie aus: „Wenn ich daran denke, was sonst alles gesponsert wird!” Naravno flösse Schenkgeld irgendwo, erwiderte er, sowie Leihgeld und Kaufgeld.(269) Was von letzterem übrigbliebe würde ja meistens verliehen, manchmal sogar gespendet, selten ohne Hintergedanken, hehe. Und er schloss: „Sehen Sie, Geld fliesst dort, wo es verdient wird.” „Oder wo's gestohlen wird”, gab sie zurück.
627} Für freiwilliges Kabelverlegen in Krisengebieten werde man vermutlich nicht schlecht bezahlt, zweigte der Bosnier den Gesprächsfaden listig ab, immerhin wäre es nicht völlig gefahrlos. „Nicht völlig gefahrlos”, wiederholte die Schwangere halblaut und hing ihren Gedanken nach. Wo sich ihr Geliebter zur Stunde wohl aufhielt? Was für ein Schicksal ihn erwartete? Wer ihn führte, wer an seiner Seite stand? Ein wirbelnd schlingender Schlund öffnete sich vor ihr, Sog der Unendlichkeit.(270) Sie riss sich zusammen. Wollte sie denn nicht vertrauen? „Er ist nicht des Gelds wegen gegangen”, erklärte sie schwach.
628} „Freund Schriftgelehrter war derselben Meinung”, antwortete der Sprachgelehrte ruhig: „nämlich meiner.” Sie hätten sich gestern Abend bei ihm zu einem Austausch getroffen, Jéhova wäre gross wie Álla, so in etwa. Zusammengefasst hätten sie festgestellt, dass der junge Mann noch Erfahrungen sammeln müsse, um seine Aufgaben zu bewältigen; er müsse noch, oprostite, in den Dreck beissen, um ganz erwachsen zu werden, müsse dem Tod ins Auge schauen, um dem Leben dienen zu können. „Um echter Vater zu werden”, fügte er schmunzelnd hinzu.
629} Eamsyne spürte ein Zappeln in ihrem Bauch. Unwillkürlich legte sie ihre Linke auf die lebendige Wölbung. Die Stösse wirkten so unbekümmert fröhlich, dass sich ihre Stirnfalten glätteten. „Wie geht es Reb Süsskuch?” fragte sie unvermittelt. Freund Rabbiner wäre zwar alt, berichtete Herr Z., aber rüstig wie eh und je; er machte sich ernste Gedanken über die Zustände in Ost und West, während ihm seine Frau Tee einschenkte, „gezuckerten, man stelle sich vor”. Da passte es, dass er Nordostpersien aufgesucht hätte, allwo er mit einem dortigen Meister übereingekommen wäre, die Hoffnung stark zu befördern. „Was”, tastete sie vorsichtig: „hat der Rabbi genau gesagt, ich meine über meinen ... meinen Mann?”
630} In seinem Redeschwall unterbrochen, richtete sich der einstige Professor auf und blickte sie fest an. „Hat gesagt: Ehrensünd muss sich dem eigenen Schatten stellen, um das Licht wirklich zu verdienen.”
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