zum IMPRESSUM
Merkblatt-
Beilage 27:
Zum Selbstmord
Rudolf Steiner
1 [...] Von Italien zurückgekehrt, schreibt er [a] noch einige Gedanken auf, die ihm während der italienischen Reise gekommen sind, großartige Ideen über den Zusammenklang des Moralischen mit dem Natürlichen, mietet sich dann ein in Beethovens Sterbezimmer und - er hat nun durchlebt die Gefangenschaft von früher - erschießt sich. Das Karma [b] war erfüllt. Erschießt sich aus einem inneren Drang heraus, weil er die Vorstellung hat, er würde ein ganz schlechter Mensch werden, wenn er weiterleben würde. Es ergab sich ihm eben nicht mehr die Möglichkeit, weiterzuleben, weil das Karma erfüllt war.
Dornach, 21.IX.1924 ☉ (aus «GA 238»; S.149)
2 Die Region der Lust und Unlust in der Seelenwelt, die oben als die vierte bezeichnet worden ist, legt der Seele besondere Prüfungen auf. Solange diese im Leibe wohnt, nimmt sie an allem teil, was diesen Leib betrifft. Das Weben von Lust und Unlust ist an diesen geknüpft. Er verursacht ihr Wohlgefühl und Behagen, Unlust und Unbehagen. Der Mensch empfindet während des physischen Lebens seinen Körper als sein Selbst. Das, was man Selbstgefühl nennt, gründet auf diese Tatsache. Und je sinnlicher die Menschen veranlagt sind, desto mehr nimmt ihr Selbstgefühl diesen Charakter an. - Nach dem Tode fehlt der Leib als Gegenstand dieses Selbstgefühls. Die Seele, welcher dieses Gefühl geblieben ist, fühlt sich deshalb wie ausgehöhlt. Ein Gefühl, wie wenn sie sich selbst verloren hätte, befällt sie. Dieses hält so lange an, bis erkannt ist, daß im Physischen nicht der wahre Mensch liegt. Die Einwirkungen dieser vierten Region zerstören daher die Illusion des leiblichen Selbst. Die Seele lernt diese Leiblichkeit nicht mehr als etwas Wesentliches empfinden. Sie wird geheilt und geläutert von dem Hang zu der Leiblichkeit. Dadurch hat sie überwunden, was sie vorher stark an die physische Welt kettete, und sie kann die Kräfte der Sympathie, die nach außen gehen, voll entfalten. Sie ist sozusagen von sich abgekommen und bereit, teilnahmsvoll sich in die allgemeine Seelenwelt zu ergießen.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß die Erlebnisse dieser Region im besonderen Maße Selbstmörder durchmachen.[c] Sie verlassen auf künstlichem Wege ihren physischen Leib, während doch alle Gefühle, die mit diesem zusammenhängen, unverändert bleiben. Beim natürlichen Tode geht mit dem Verfall des Leibes auch ein teilweises Ersterben der an ihn sich heftenden Gefühle einher. Bei Selbstmördern kommen dann noch zu der Qual, die ihnen das Gefühl der plötzlichen Aushöhlung verursacht, die unbefriedigten Begierden und Wünsche, wegen deren sie sich entleibt haben.
aus «GA 9»; S.105ff
3 Wenn der Mensch Selbstmord begeht, hat er sein Ich mit dem physischen Körper identifiziert. Daher entsteht nachher um so heftiger die Gier nach dem physischen Körper. Er kommt sich dann vor wie ein ausgehöhlter Baum, wie einer, der sein Ich verloren hat. Er hat dann einen fortwährenden Durst nach sich selbst.
Berlin, 7.X.1905 ♄ (aus «GA 93a»; S.95f)
4 [...] Wenn durch dieses frühe Sterben die Begegnung mit dem Vater-Prinzip in den tiefen unterbewußten Seelengründen noch nicht hat stattfinden können, dann findet sie in der Todesstunde statt. Und hier ist es, wo wir anders ausdrücken können etwas, was ja, eben wieder anders, im entsprechenden Zusammenhang schon ausgedrückt ist zum Beispiel in meiner «Theosophie», wo von der ja immer im höchsten Grade betrüblichen Erscheinung gesprochen ist, daß Menschen durch ihren eigenen Willen ihrem Leben ein Ende machen.[d] Das würde keiner tun, der die Bedeutung einer solchen Tat einsieht. Und wenn einmal Geisteswissenschaft wirklich in die Empfindungen der Menschen übergegangen sein wird, wird es keinen Selbstmord mehr geben. Denn daß der Mensch in der Todesstunde, wenn dieser Tod vor der Lebensmitte eintritt, zugleich wahrnehmen kann das Vater-Prinzip, das hängt davon ab, daß eben der Tod von außen an ihn herankommt, nicht daß er ihn sich selbst gibt. Und die Schwierigkeit, die die Menschenseele hat, [...] könnte nun von dem Gesichtpunkt, von dem wir heute sprechen, auch so geschildert werden, daß wir sagen könnten: Der Mensch entzieht sich durch den eigenwilligen Tod eventuell der Begegnung mit dem Vater-Prinzip in der entsprechenden Inkarnation.
Berlin, 20.II.1917 ♂ (aus «GA 175»; S.64f)
5 Dann unternimmt er [e] zum Beispiel eine Reise mit einem Freunde. Sie reisen von Wien nach Salzburg, da überfällt ihn diese Idee, er sei von der Hundswut angesteckt, er müsse gleich wieder zurück nach Wien, um seine Heilung zu suchen. Es ist eine qualvolle Reise für ihn und für den Freund, wenn man die Reise verfolgt. Man sieht überall das Pathologische dem Genialen auf dem Fuße folgen. Nun, er wird sehr gut behandelt, Ferdinand Raimund, weil ihn die Leute außerordentlich gern haben. Allmählich kommt er ab von dieser Idee. Es ist wirklich etwas da wie eine Heilung durch das Leben, durch die Freude, durch all das Gute, was er von verschiedenen Seiten bekommt, was er nicht gern annimmt, weil er Hypochonder ist und bleibt, weil die Angstdämonen [f], wenn sie ihn nicht mit dem einen quälen, mit dem anderen quälen. So ist er immer hin und her pendelnd zwischen dem humoristischen Raimund und dem Hypochonder. Aber wenigstens kriegte er diese Idee los, daß er wütend wäre. Sie hat jahrelang gedauert, diese Idee. Aber er bleibt an Tiere gefesselt. Wieder hat er einen Hund nach zehn Jahren, und siehe da, als er mit dem Hunde spielt, beißt er ihn wirklich. Wieder tritt die Idee auf - kurioserweise ist es auch konstatiert worden, daß der Hund an Hundswut litt, es war aber ganz unbedeutend -, Raimund stand da, er war gebissen von dem Hund, der hat Hundswut! Raimund fährt nach Pottenstein, schießt sich eine Kugel in den Kopf, die in die hintere Höhlung hinaufgeht und weit zurück sitzt. Sie kann nicht operiert werden; Raimund stirbt an dem Schuß nach etwa drei Tagen. Sie sehen, die erste sozusagen «Wahnidee» hat er losbekommen, aber das Karma hat fortgewirkt.
Es ist ein Fall, wo in seltener Art das Karma sich reinlich auswirkt; denn denken Sie nur einmal folgendes: Es ist subjektiv nicht ganz ein Selbstmord, denn Raimund hat nicht ganz die volle Verantwortlichkeit, es ist nicht subjektiv ein voller Selbstmord. Es ist objektiv auch kein voller Selbstmord, denn wenn gerade an der Stelle dazumal hätte operiert werden können, so wäre Raimund gerettet worden. [...] Es ist kein reiner Selbstmord, weder subjektiv noch objektiv. Man kann also nicht sagen, daß da sich irgend etwas anschließt wegen Selbstmords im Karma. Das Karma setzt sich nicht fort, es lebte sich aus mit dem, was er in diesem Leben erlebt hat bis zum Schlußpunkt, bis zu der Art, wie sich die selbstmörderische Absicht verwirklichte. [...]
Dornach, 13.IX.1924 ☉ (aus «GA 318»; S.88f)
Andere Stimmen
13 Der bewegendste Text [aus dem I. altägyptischen Interregnum 2200v-2050v] ist zweifellos der „Streit über den Selbstmord”. Es ist ein Zwiegespräch eines von Verzweiflung niedergedrückten Menschen mit seiner Seele (ba). Der Mann will seine Seele von der Zweckmäßigkeit des Selbstmordes überzeugen. „Zu wem spreche ich heute? Die Brüder sind schlecht, die Gefährten von gestern lieben einander nicht ... Die Herzen sind räuberisch: ein jeder nimmt die Habe seines Nächsten fort ... Es gibt keine Gerechten mehr. Das Land ist denen überlassen, die Ungerechtigkeiten säen ... Die Sünde, die über das Land zieht, ist ohne Ende.” Inmitten all dieser Geißeln erscheint ihm der Tod mehr als wünschenswert: er wird ihn mit vergessenen oder kaum erlebten Seligkeiten überhäufen. „Der Tod steht heute vor mir wie einem Kranken die Heilung ... wie der Wohlgeruch der Myrrhen ... wie der Duft der Lotosblumen ... wie der Geruch (der Felder) nach dem Regen ... wie das glühende Verlangen eines Menschen, nach jahrelanger Gefangenschaft wieder nach Hause zurückzukehren.” Seine Seele (ba) erinnert ihn zunächst daran, daß ihm durch einen Selbstmord die Bestattung und die Bestattungsfeierlichkeiten verwehrt würden; sodann versucht sie, ihn dazu zu bewegen, seine Sorgen in sinnlichen Freuden zu vergessen. Schließlich aber versichert sie ihm, daß sie auch dann bei ihm bleiben werde, wenn er beschlösse, sich selbst den Tod zu geben.
Mircea Eliade
aus «Geschichte der religiösen Ideen - Bd.1»; S.102f
14 Ich habe schon auf Schulen Gedanken vom Selbstmord gehegt, die den gemein angenommenen in der Welt schnurstracks entgegen liefen, und erinnere mich, daß ich einmal lateinisch für den Selbstmord disputierte und ihn zu verteidigen suchte*. Ich muß aber gestehen, daß die innere Überzeugung von der Billigkeit einer Sache (wie dieses aufmerksame Leser werden gefunden haben) oft ihren letzten Grund in etwas Dunklem hat, dessen Aufklärung äußerst schwer ist oder wenigstens scheint, weil eben der Widerspruch, den wir zwischen dem klar ausgedrückten Satz und unserm undeutlichen Gefühl bemerken, uns glauben macht, wir haben da den rechten noch nicht gefunden. Im August 1769 und in den folgenden Monaten habe ich mehr an den Selbstmord gedacht als jemals vorher, und allezeit habe ich bei mir befunden, daß ein Mensch, bei dem der Trieb zur Selbsterhaltung so geschwächt worden ist, daß er so leicht überwältigt werden kann, sich ohne Schuld ermorden könne. Ist ein Fehler begangen worden, so liegt er viel weiter zurück. Bei mir ist eine vielleicht zu lebhafte Vorstellung des Todes, seines Anfangs und wie leicht er an sich ist, schuld, daß ich vom Selbstmord so denke. Alle, die mich nur aus etwas größeren Gesellschaften und nicht aus einem Umgang zu zweit kennen, werden sich wundern, daß ich so etwas sagen kann. Allein Herr Ljungberg** weiß es, daß es eine von meinen Lieblingsvorstellungen ist, mir den Tod zu gedenken, und daß mich dieser Gedanke zuweilen so einnehmen kann, daß ich mehr zu fühlen als zu denken scheine und halbe Stunden mir wie Minuten vorübergehn. Es ist dieses keine dickblütige Selbstkreuzigung, welcher ich wider meinen Willen nachhinge, sondern eine geistige Wollust für mich, die ich wider meinen Willen sparsam genieße, weil ich zuweilen fürchte, jene melancholische nachteulenmäßige Betrachtungsliebe möchte daraus entstehen.
Georg Christoph Lichtenberg
* Als Gymnasiast in Darmstadt überreichte Lichtenberg seinem Rektor, Wenck, eine den Selbstmord verteidigende Abhandlung.
** Jons Matthias Ljungberg, ein Schwede, war Lichtenbergs nächster Studienfreund; er studierte Medizin, wurde später Finanzrat in Kopenhagen.
aus «Aphorismen»; S.72ff
15 Es wird niemanden überraschen, daß Rudolf Steiner sich bisweilen kraß ausdrückt, wenn er auf das besonders traurige Phänomen des Selbstmords zu sprechen kommt. [...] Denn der aus einem persönlichen Entschluß hervorgehende Tod isoliert den Menschen nicht nur in spiritueller Hinsicht von seiner Umgebung. Dieser Tod entzieht dem Menschen gerade, was ihm den Zugang zur Welt des Geistes öffnet: seine Ich-Erfahrung. So hat er denn auch nichts „übrig”, er verfügt über keinerlei Überschuß, der eventuell anderen zugute kommen könnte. Bei einem Selbstmord in der ersten Lebenshälfte hat er nicht die ausgleichenden Kräfte, die anderen Toten helfen könnten, und ebenso wenig schöpferisch-lebendige Fähigkeiten - aufbauende Kräfte für die Menschen auf der Erde. Denn diese Fähigkeiten werden durch den Entschluß zum Selbstmord, der auf jener verhängnisvollen Gleichsetzung des eigenen Wesens mit seiner irdischen Daseinsform beruht,[g] vernichtet. Mehr noch als andere Verstorbene bedürfen solche Menschen der geistigen Hilfe Lebender und, wie wir noch sehen werden, auch der anderer Verstorbener.
Arie Boogert
aus «Wir und unsere Toten»; S.119f
16 Manchmal versuchte er sich vorzustellen, wie die letzten Minuten seien, nachdem man die tödlichen Tabletten genommen habe, sagte Eça mitten in der Partie. Zuerst vielleicht Erleichterung, daß es nun endlich zu Ende sein werde und man dem würdelosen Siechtum entronnen sei. Ein Hauch von Stolz über den eigenen Mut. Ein Bedauern, daß man nicht öfter so mutig gewesen sei. Ein letztes Resümee, eine letzte Vergewisserung, daß es richtig sei und falsch wäre, die Ambulanz zu rufen. Die Hoffnung auf Gelassenheit bis zuletzt. Das Warten auf die Eintrübung und die Taubheit in Fingerspitzen und Lippen.
»Und dann plötzlich doch rasende Panik, ein Aufbäumen, der irrsinnige Wunsch, es möge noch nicht zu Ende sein. Eine innere Überschwemmung, ein heißer, reißender Strom von Lebenswillen, der alles beiseite fegt und alles Denken und Entscheiden künstlich erscheinen läßt, papieren, lächerlich. Und dann? Was dann
Pascal Mercier
aus «Nachtzug nach Lissabon»; S.454f
17 Irgend etwas, was meiner Mutter und ihren Freundinnen schon in der Jugend in jenem Gymnasium der zwanziger Jahre eingeflößt worden war, oder vielleicht etwas Modrig-Romantisches, das schon damals in ihre Herzen eingedrungen war, ein zäher polnisch-russischer Gefühlsnebel, [...], etwas im Zwielicht zwischen Erhabenem, Gepeinigtem, Verträumtem und Einsamem, allerlei trügerische Sumpflichter von »Sehnsucht und Verlangen« haben meine Mutter die meiste Zeit ihres Lebens irregeführt und verlockt, bis sie sich von ihnen verführen ließ und im Jahre 1952 ihrem Leben ein Ende setzte. Sie war achtundreißig Jahre bei ihrem Tod. Ich war zwölfeinhalb.
In den Wochen und Monaten nach dem Tod meiner Mutter dachte ich nicht einen einzigen Augenblick lang an ihr Leiden. Ich verschloß mich undurchdringlich vor dem ungehörten Schrei, der von ihr blieb und vielleicht alle Tage in den Zimmern der Wohnung schwebte. Keinen Funken Mitleid hatte ich. Auch keine Sehnsucht. Auch keine Trauer über den Tod meiner Mutter: Vor lauter Kränkung und Wut blieb kein Raum in mir für irgendein anderes Gefühl. Fiel mein Blick zum Beispiel auf ihre karierte Schürze, die noch einige Wochen nach ihrem Tod am Haken hinter der Küchentür hing, wurde ich wütend, als streute diese Schürze Salz in meine Wunden. [...]
Ich war wütend auf sie, weil sie gegangen war, ohne Verabschiedung, ohne Umarmung, ohne ein Wort der Erklärung: Selbst einen Wildfremden, einen Lieferanten oder Hausierer an der Tür, ließ meine Mutter nicht gehen, ohne ein Glas Wasser anzubieten, ohne ein Lächeln, ohne eine kleine Entschuldigung, ohne zwei, drei freundliche Worte. Während meiner ganzen Kindheit ließ sie mich kein einziges Mal im Lebensmittelladen, in einem fremden Hof oder im Park allein. Wie konnte sie nur so etwas tun? [...] Wir hatten eine feste Regel: Wer weggeht, sagt immer, wohin, für wie lange und wann er zurückkommt. Oder hinterläßt zumindest einen Zettel am festgelegten Platz, unter der Vase.[h]
Jeder von uns.
Amos Oz
aus «Eine Geschichte von Liebe und Finsternis»; S.343f
18 Selbstverständlich verdient jeder Mensch, der sich aus Verzweiflung das Leben nehmen will, unser größtes Mitempfinden und unsere volle innere Anteilnahme, allerdings nicht im Sinne seiner Absichten. An dieser Stelle muss man den Mut haben, sich zu gestehen: Durch einen solchen, auch den ärztlich begleiteten, Suizid - ob man sich dessen bewusst ist, oder nicht - hilft man dem Fürst des Todes, Ahriman [i], in seinem heute stattfindenden Kampf gegen den Christus. Denn der im gesamten Weltzusammenhang liegende Entwicklungsstrom des Schicksals, der in unserer Zeit immer mehr unter die Führung des Christus als Herr des Karma kommen muss,⁷ wird dadurch zugunsten Ahrimans willentlich unterbrochen. Das äußert sich darin, dass die Seele nach dem Tod des Menschen nicht in die höheren Gebiete der geistigen Welt [k] aufsteigen kann und für eine längere Zeit an die Erde gefesselt bleibt, als das sonst der Fall ist,⁸ was durchaus in den Absichten Ahrimans liegt. Mehr noch, die Seele des Selbstmörders verliert in der geistigen Welt weitgehend die Beziehung zu ihrem eigenen Ich, wodurch sich ihr nachtodliches Leben sehr schwierig gestaltet. Rudolf Steiner sagt diesbezüglich: «Wenn der Mensch Selbstmord begeht, hat er sein Ich mit dem physischen Körper identifiziert. Daher entsteht nachher um so heftiger die Gier nach dem physischen Körper. Er kommt sich dann vor wie ein ausgehöhlter Baum, wie einer, der sein Ich verloren hat. Er hat dann einen fortwährenden Durst nach sich selbst.»⁹ Und eben das letztere hindert die Seele in besonderem Maße daran, nach dem Tod an die höhere geistige Welt und die sie bewohnenden hierarchischen Wesenheiten anzuknüpfen.
Aber auch in dieser verzweifelten Situation, wenn die Seele des Selbstmörders nicht mehr den Christus und damit ihren inneren Frieden nach dem Tod finden kann - weil ihr das Wichtigste fehlt -, besteht für sie die Möglichkeit, doch voranzukommen. Das kann aber nur durch die Gnade des Christus geschehen, die dann zur letzten Rettung für die Seele wird. Denn der mit dem Selbstmord abgerissene Schicksalszusammenhang kann allein durch die Kraft des Christus-Ich geheilt werden.
Deshalb hat Rudolf Steiner einer Mutter, deren Sohn sich das Leben genommen hatte, für den Verstorbenen die folgende Meditation gegeben:
Seele im Seelenlande,
suche des Christus Gnade
die dir die Hilfe bringet,
die Hilfe aus Geisterlanden,
die auch jenen Geistern Friede
verleiht, die im friedelosen
Erleben verzweifeln wollen.
¹°
_______
⁷ Über das Wirken des Christus als Herr des Karmas im hier angedeuteten Sinne siehe: Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit (GA 130), Vortrag vom 2.Dezember 1911.
⁸ So berichtet Rudolf Steiner von der Situation des Selbstmörders nach dem Tod: «Am schwersten wird dieses Entwöhnen [vom physischen Leib] dem Selbstmörder [...] eine unsägliche Gier nach seinem physischen Leib erfasst [ihn], die ihn in der Nähe der physischen Welt festhält» (aus: Kosmogonie (GA 94), Vortrag vom 30.Juni 1906). Welchen Gefahren eine solche Seele in der an die Erde direkt angrenzenden Welt ausgesetzt ist, wenn sie sich zu lange dort aufhalten mus, hat Rudolf Steiner in dem Vortrag vom 4.Februar 1913 (in: Die Mysterien des Morgenlandes und des Christentums, GA 144) beschrieben.
⁹ Rudolf Steiner: Grundelemente der Esoterik (GA 93a), Vortrag vom 7.Oktober 1905. - Dieser «Durst nach sich selbst» bringt eine solche Seele aber in Abhängigkeit von ahrimanischen Wesen. Rudolf Steiner weist darauf in folgenden Worten hin: «In der geistigen Welt bringt diese [ahrimanische] Gewalt den Menschen zur völligen Vereinsamung, zur Hinlenkung aller Interessen auf sich.» (aus: Die Geheimwissenschaft im Umriss (GA 13), S.287)
¹° Rudolf Steiner: Mantrische Sprüche (GA 268), S.228.
Sergej O. Prokofieff
in »das Goetheanum« 25/2010; S.11
19 W.W.: Nehmen wir einmal an, ein Mensch hat die karmische Lebenszeit von 72 Jahren, er ernährt sich recht gesund, lebt in denjenigen Ländern, in denen das Gesundheitssystem sehr gut ist, und hat die Chance, über das 72. Lebensjahr hinaus weiterzuleben. Vielleicht bemerkt er im 80.Lebensjahr, daß er eine unheilbare Krankheit hat, vielleicht auf schwere Demenz zusteuert, und nun entscheidet er, weil er nicht viele Jahre dement in einem Altersheim leben oder künstlich am Leben erhalten werden will, sein Leben zu beenden. Ist dies in einem Fall, bei dem es absolut klar ist, daß man nur noch dement dahinvegetieren würde, rechtens, sich das Leben zu nehmen, wenn man dazu noch in der Lage ist?
Etschewit: Ja. Das wird zunehmend an euch Menschen als Frage herangetragen werden. Es wird immer mehr an euch herangetragen werden, euren Todeszeitpunkt selber zu bestimmen. Der von dir geschilderte Zusammenhang ist ein Beginn dessen. Ein solcher Freitod [g] gilt auch nicht als Selbstmord.[l]
aus «Flensburger Heft 116»; S.185f
20 M.Gees: [...] Es will eine Erfahrung gemacht werden: daß es so nicht geht, daß die Menschengemeinschaft, wenn sie mehrheitlich einem materialistischen Wachstumsbegriff huldigt, nicht weit genug kommt. Viele Menschen wollen das jetzt wissen. Sie wollen eine Grenzerfahrung machen. Dabei kommt eine neue Definition des Ich heraus. Was bin ich, wenn ich nicht habe oder Raum nehme? Was - und wem - gelte ich dann? An dieser Fragestellung gibt es viel zu leiden, zumal wenn Anregung, Daseinsfreude und Lust fehlen. Und dann mag wohl auch Suizid als Weg in Frage kommen: Selbstzerstörung bewahre vor dem Schmerz, leidend und mitleidend durch den Todespunkt der menschengemeinschaftlichen Gesamtentwicklung hindurchzugehen und in das Dahinter zu schauen. Suizid ist - nicht immer, aber oft - ein Angriff auf den sozialen Organismus als Ganzes. [...] Im Suizid triumphiert das Konzept der Auslöschung, er bedeutet eine Niederlage der menschlichen Bewußtseinsentwicklung, die auf Verkörperung einstweilen angewiesen ist.
aus «Flensburger Heft 126»; S.145
21a Ein ganz besonderes Augenmerk bezüglich der nachtodlichen Entwicklung steht Menschen zu, die sich selbst das Leben genommen haben. Die gesellschaftlichen Meinungen über Suizid sind tief gespalten: Auf der einen Seite wird Selbstmord [nicht Frei- oder Opfertod] als selbstzerstörerische Handlung betrachtet und auf das Schärfste verurteilt; auf der anderen Seite wird dieser Tat, vor dem Hintergrund der Selbstbestimmung des Menschen, Verständnis entgegengebracht.
[...]
Hinter jedem einzelnen Fall verbirgt sich ein ganz individuelles Schicksal, das von Schmerz und Verlust, von Einsamkeit und Verzweiflung, von Angst und Aussichtslosigkeit erzählt. Die Gründe, die zu einer solchen Tat führen, sind jeweils vielfältig und komplex, doch nahezu allen Selbstmordfällen ist eines gemeinsam: Suizid ist eine existenzielle Verzweiflungstat und trägt somit die Signatur einer tragischen Lebensentscheidung. Die Betroffenen empfinden ihre Situation als hoffnungslos und unerträglich und sehen keinen anderen Ausweg, als ihrem «Dasein» ein Ende zu bereiten.
Wenn man einen solchen Menschen jenseits der Schwelle begleitet, nimmt man zunächst seinen Schrecken darüber wahr, dass seine Selbsttötung weder sein Sein noch sein Leiden beendet hat. Voller Bestürzung begreift er, dass er lediglich seinen physischen Leib zerstört hat; die Probleme, die er auslöschen wollte, und sein bedrückendes Seelenempfinden bleiben Teil seines Wesens. Seines leiblichen Instrumentes beraubt, hat er nun keine Möglichkeit mehr, in den eigenen irdischen Werdegang einzugreifen und diesen zu verändern oder neu zu gestalten. - So weit stimmen die Erlebnisse fast aller Suizidenten überein. Ab hier bilden sich jedoch unterschiedliche Erfahrungswelten, die das Erleben der betroffenen Äthertoten [m] ausmachen.
Die meisten Suizidenten bleiben zunächst in den Gefühlen, Ängsten, Verzweiflungsausbrüchen und Zerrissenheitserlebnissen gefangen, die dem Suizid vorangingen. Alle Begleitumstände wie auch die Tat an sich werden wieder und immer wieder erlebt. Die zerschmetternde Einsicht, dass es nun kein Zurück mehr gibt, verstärkt ihr Empfinden von Reue und Hoffnungslosigkeit. Hinzu kommen Schuldgefühle gegenüber den Hinterbliebenen und der Wunsch, die Selbsttötung rückgängig zu machen. Sie erleben sich gefangen in einem Kokon aus stets wiederkehrenden dunklen Gedanken und Empfindungen, aus dem sie sich nicht befreien können. Dies ist, lapidar gesagt, mit einem albtraumartigen Psychothriller vergleichbar, bei dem sich die schrecklichsten Szenen unaufhörlich wiederholen.
S.101ff
21b Die geistige Arbeit mit Suizidenten zeigt auf, dass der Anteil derjenigen, die nach ihrem Tod einen äußerst schweren Gang zu gehen haben, überwiegt. Ich habe noch keinen Selbstmordfall erlebt, der sich im Nachtodlichen «leicht» gestaltete. Immer hat der Betroffene belastende und schwierige Seelenzustände durchzustehen. Doch der qualitative Erlebnisunterschied kann sehr groß sein, nicht jeder einzelne Fall muss unbedingt den Duktus des Verhängnisvollen in sich tragen. Mit der Zeit ist mir bewusst geworden, dass es einige wesentliche Bausteine des Ereignisses gibt, die das nachtodliche Erleben maßgeblich prägen und gestalten.
Die seelische Verfassung, die wir zuletzt auf der Erde haben, nehmen wir unabdingbar über die Schwelle mit. Sie ist als Farbgebung des nachtodlichen Erlebens signifikant. Entscheidend ist also, welche Kräfte - und somit welche geistigen Wesenheiten - das Seelenerleben formen oder beherrschen. Prägen Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Angst oder Ohnmacht das eigene Befinden? Ist die Seele in einer Depression gefangen und somit verdunkelt? - In entsprechenden Erlebnissen findet sich der Suizident nach dem gewaltsamen Schwellenübertritt wieder.
Der seelische Zustand bestimmt auch die Art des jeweiligen Selbsttötungsaktes. Dieser kann sich aggressiv und zerstörerisch vollziehen oder auch träge und scheinbar resigniert. [...] Was die Verantwortung gegenüber dem eigenen Leben angeht, gibt es keine «bessere» oder «schlechtere» Variante des Selbstmords. Doch die innere Seelengeste der Handlung wird mit über die Schwelle genommen, wo sie die Erlebniswelt des Suizidenten mitprägt.
S.108f
21c Suizidenten sind im Grunde genommen zugleich Opfer und Täter ihres Handelns. Nicht nur auf der ätherischen Ebene, sondern auch in der Seelenwelt haben sie meist große Schwierigkeiten, die Auswirkungen ihrer Tat auszuhalten und sich selbst zu vergeben. Sie realisieren, dass sie sich durch die Selbsttötung von der geistigen Welt abgewandt und das Schöpfungsprinzip missachtet haben. Die Erfüllung ihres angelegten irdischen Schicksals ist für dieses Mal verwirkt. Ihre verdunkelte Innenwelt umgibt sie über längere Zeiträume in düsteren, erschreckenden Bildern, gleichzeitig erleben sie «am eigenen Leib» den tiefen Schmerz der Hinterbliebenen. Das erfüllt sie mit Trauer und Bedauern und zieht sie häufig zu ihren Angehörigen zurück. Der Zustand eines solchen Astraltoten [m] kann sich wie eine graue, drückende energetische Wolke auf seine Familie legen. Erschöpfungs- oder Angstzustände, Depressionen oder Suizidgedanken der Angehörigen können die Folge sein.
S.161f
Iris Paxino
aus «Brücken zwischen Leben und Tod»
Unsere und weitere Anmerkungen
a] Otto Weininger, ein Wiener Philosoph
b] vgl. Mbl.9
c] Allerdings ist nicht jeder Tod, der wie ein Selbstmord aussieht, auch ein solcher.
d] siehe oben «GA 9»
e] Ferdinand Raimund
f] vgl. Mbl-B.22
g] Diese Geisteshaltung riskiert auch für den unfreien Suizid den Begriff „Freitod”, der übrigens auf Nietzsches «Also sprach Zarathustra» zurückgeht. Charlotte Perkins Gilman meinte 1935: „Kein Schmerz, kein Unglück oder ‚gebrochenes Herz‘ berechtigt einen dazu, sein Leben zu beenden, solange man noch die Kraft zum Dienst an der Gemeinschaft besitzt. Doch wenn jegliche Nützlichkeit hinter einem liegt, wenn man sicher ist, daß der Tod unausweichlich bevorsteht, gehört es zu den simpelsten Rechten des Menschen, einen schnellen, leichten Tod an Stelle eines furchtbaren und langsamen zu wählen.”. Dies ist zB. vom lebensskeptischen Jean Améry verteidigt und vom lebenslustigen Gunther Sachs in Anspruch genommen worden.
h] vgl. «No te mueras sin decirme a donde vas» oder Selbstmord von Else Lasker-Schüler
i] vgl. Mbl.16
k] vgl. R.STEINER zur Seele nach dem Tode
l] „Der Schlangenträger [Ophiucus] ist das erste Sternbild, welches eine neue, fünfte Kraft in den Viererreigen [des Tierkreises] hineinbringt. Es ist die beginnende Führungskraft. Ich beziehe mich hierbei auf die beginnenden Fähigkeiten des einzelnen Menschen oder zumindest seinen Wunsch, den eigenen Geburts- und Todesmoment selbstbewußt aus dem Tagesbewußtsein heraus zu gestalten. Einer der vielen Hinweise darauf ist die nicht enden wollende Diskussion über die Sterbehilfe.” Der Große in «Mühlengespräche IV»; S.87f
m] Unter „Äthertoten” versteht die Verfasserin solche, die aufgrund mangelnden Loslassens die Lebenssphäre der Erde (Erdenätheraura) nicht verlassen können, unter „Astraltoten” solche, die sich im Kamaloka befinden.
https://wfgw.diemorgengab.at/WfGWmblB27.htm