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Merkblatt-
Beilage 24:
Orion-Geschichten
Karl Kerényi
Orion © 2023 by M.Spaček 1a Ein ganzer Kranz von Geschichten knüpft sich an das Sternbild Orion.[a] An unserem Himmel glänzt es besonders prächtig, und es wurde erzählt, es sei der wilde Jäger Orion gewesen, eine Riesengestalt, die wie aus barbarischer Urzeit in unsere Mythologie hineinragt. Mit Recht wurde er zusammen mit den Riesenknaben Otos und Ephialtes, den Aloaden, genannt. Jene seien an Schönheit nur dem Orion nachgestanden. Es wurde schon vorweggenommen, als von der Göttin Maja die Rede war, daß eine Schar von göttlichen Mädchen sich vor ihm flüchten und schließlich in das Siebengestirn der Pleiaden [b] verwandeln mußte. Sie wurden - nach einer Erzählung nur ein einziges Mädchen, namens Pleione, nach anderen Pleione und ihre Töchter - von Orion durch Böotien verfolgt, fünf oder sieben Jahre lang. Vielleicht waren sie in den alten Erzählungen wirklich nur wilde Tauben (peleiades), die der wilde Jäger wirklich erjagen wollte, zugleich aber auch Göttinnen, wie die Bärin,[c] die mit ihnen und mit Orion an den Himmel kam. Man wird bald hören, in welch enger Beziehung gerade dieser Jäger zu Artemis [d] stand. Eben darum hieß es wohl, daß die Pleiaden, die Orion verfolgte, Jagdgefährtinnen der Artemis waren. Man höre jetzt die Geschichten vom Jäger [bzw. Jagdzauberer oder Schamanen].
1b Orion galt in einer Erzählung als Sohn des Poseidon und der Euryale, einer Tochter des Minos: eine Abstammungsgeschichte, die verrät, wie nah er den wilden Jägern von Kreta, dem Zagreus und dem die Britomartis verfolgenden Minos einmal stand. In Böotien wurde eine andere Geschichte von der Abstammung des riesenhaften Jägers erzählt. In Tanagra wohnte der gastfreundliche Hyrieus, dem Namen nach der «Bienenmann». Man weiß aus der Geschichte des Kronos, daß sich die Götter in den Urzeiten am Honig berauscht hatten. Nach anderen Erzählern spielte anstatt Hyrieus ein König namens Oineus oder Oinopion eine große Rolle in der Geschichte des Orion. Diese Namen hängen mit oinos, «Wein», zusammen, wie der des Hyrieus und der Stadt Hyria, die zu Tanagra gehörte, mit hyron «Bienenstock». Es wurde also erzählt, daß bei Hyrieus oder Oinopion drei Götter einkehrten. Meist werden Zeus, Poseidon und Hermes genannt. Die drei Götter ließen ihren Samen in die Haut eines geopferten Stieres fließen und befahlen dem Gastgeber, den auf diese Weise gefüllten Ledersack in der Erde zu begraben. Daraus entstand nach zehn Monaten Orion, ein aus der Erde geborener Riese. So haben die Götter den kinderlosen Gastgeber mit einem Sohn beschenkt.
1c In der Fortsetzung der Geschichte, wie sie besonders auf der Insel Chios erzählt wurde, spielt die Wirkung des Weines eine entscheidende Rolle. Orion vergewaltigte in der Trunkenheit Merope, die Frau seines Stiefvaters Oinopion. Nach einer anderen Erzählung war Merope, die dem Betrunkenen zum Opfer fiel, eine Tochter des Oinopion. Es wurde auch erzählt, daß Orion um Merope warb und ihretwegen die Insel Chios von den wilden Tieren befreit hatte;[e] doch Oinopion wollte ihn betrügen. Da brach er betrunken in die Kammer der Merope ein. Oder Oinopion selbst machte den wilden Jäger betrunken, blendete ihn im Schlaf und warf den Blinden an den Strand. Der Kern von all diesen Erzählungen scheint zu sein, daß der betrunkene Riese sich an der Frau seines Stiefvaters vergriff und von ihm zur Strafe geblendet wurde. Es muß dies eine besonders schreckliche Tat gewesen sein, wenn er dafür so schrecklich leiden mußte. Wäre die Geschichte von den drei Göttern nicht da, die auch wegen eines Wortspiels erfunden werden konnte - Samen lassen heißt auch urein, und davon wird in jener Geschichte der Name Orion abgeleitet - so müßte man an die Schändung der eigenen Mutter denken. Solche Wirkung des Weines wurde auch von Lykurgos, dem Feind des Dyonisos, erzählt. Und gerade diese Sünde wurde, nicht nur im Fall des Oidipus, mit Blindheit bestraft.
1d Merope konnte ebenso die Mutter des Orion gewesen sein, wie Semele die Mutter des Dionysos, oder Elara die Mutter des phallischen Riesen Tityos, obwohl auch diese beiden schließlich nicht von den genannten Müttern, sondern auf anderem Wege geboren wurden. Es wurde auch von einer Gattin des Orion erzählt mit Namen Side, «der Granatapfel», die er in die Unterwelt stieß, weil sie sich an Schönheit mit Hera maß. Ein solcher Name, wie auch der Name Merope, paßte zur Unterweltkönigin. Dahinter verbirgt sich die Muttergattin, mit der Orion jene Sünde beging, wofür die Blindheit Strafe war. Es wurde ihm geweissagt, Heilung könne er nur finden, wenn er die leeren Augenhöhlen den Sonnenstrahlen aussetzte. Der Blinde hörte den Lärm einer Schmiede und ging in die Richtung der Töne. Er konnte auf dem Wasserspiegel laufen [f] oder vielmehr als Riese das Meer durchwaten. So kam er nach Lemnos, wo die Schmiede des Hephaistos mit großem Lärm arbeitete. Obwohl dieser Gott in den Erzählungen ausdrücklich genannt wird, war es dennoch Kedalion, der Lehrmeister des Hephaistos, den Orion ergriff und auf seine Schulter setzte, damit der Kleine den Riesen der Sonne entgegenführe.[g] Der blinde Orion traf mit dem aufgehenden Helios [h] zusammen und wurde geheilt.[i] Es wurde auch erzählt, daß er zu Oinopion zurückkehrte, um ihn zu bestrafen. Doch jener hielt sich unter der Erde verborgen, in einer ehernen [k] Kammer. Da begann Orion die Wanderung, die mit seiner Versetzung an den Himmel endete. Der wilde Jäger drohte, alle Tiere der Erde auszurotten. Artemis und Leto waren dabei, als er auf Kreta jagte. Die Erde aber brachte gegen ihn den Skorpion hervor,[l] der den Jäger stach und als Sternbild mit ihm an den Himmel kam. Oder es war Artemis, die den Skorpion gegen den Gewalttätigen schickte, als dieser ihr Kleid schon ergriffen hatte. Sie konnte freilich den Angreifer auch mit ihren Pfeilen getötet haben. Darüber gab es eine ganz einzigartige Geschichte.
1e Es wurde erzählt, daß Eos sich Orion zum Gatten genommen hatte, ehe ihn Artemis mit ihren Pfeilen auf der Insel Ortygia tötete. Der Ort war eben jener, wo die Sonne aufging: es war die Geburtsinsel des Apollon [g], auch Delos genannt. Da hatte Orion die Artemis zum Diskoswerfen herausgefordert. Die Göttin erzürnte sich darüber, oder vielmehr darüber, daß der Riese das hyperboräische Mädchen Opis - ein anderer Name für Artemis selbst - angriff. Nach jener einzigartigen Geschichte aber war Artemis verliebt in den Jäger. Apollon merkte es und trug es schwer. Er schalt sie; nichts nützten aber die Worte. Einmal erblickte er, weit draußen im Meere, als dunklen Punkt, den Kopf des Orion und forderte die Schwester auf, mit ihm um die Wette nach jenem Ziel zu schießen. Artemis traf den Kopf, den sie nicht erkannt hatte, und erhob nachher den Geliebten zu den Sternen. Auch vom Sternbild Orion ist manchmal nur der Kopf über dem Horizont sichtbar. Solche aber, die von der Verstirnung nicht wissen wollten, wie Homer, erzählten, daß Orion auf den Asphodeloswiesen in der Unterwelt weiter die Tiere jagt, die er auf der Erde erlegt hatte, die eherne Keule in der Hand. Sternkarte: Orion © GNU
aus «Die Mythologie der Griechen»; S.196ff
ORI
2 Der Orion ist das eindrucksvollste Sternbild am Nachthimmel. Sieben Sterne bilden ein Kreuz, vier an den Enden und drei als Gürtelsterne in der Mitte. Die Dynamik und Kraft, die von dem Bild ausgeht, liegt in seiner Asymmetrie. Jeweils um ein Siebtel weicht das Bild vom symmetrischen x-förmigen Kreuz ab. In der Antike wird Orion der höchste Rang zugeschrieben. Als ‹Saach›, als die Barke des Osiris, als Repräsentanten der Sonne in der Nacht verehrten ihn die Ägypter, während man in Babylon in dem Winterbild die Sagengestalt des Halbgottes Gilgamesch sah. Viele steinerne Abbildungen des Mitras-Sonnengottes, der den Stier erlegt und dabei in gespannter Geste zur Sonne blickt, erinnern in römischer Zeit an die Gestalt des Orion. Der Orion liegt (mit dem Sternbild Adler) als einziges Bild auf dem Himmelsäquator, sodass er von allen Orten der Erde zu sehen ist - auch das gehört zu seinem besonderen Rang. Schließlich verbindet er Kraft und Sensibilität. Denn neben den sieben hellen Sternen, die das Kreuz formen, schließt sich rechts daneben ein feiner Halbkreis aus sieben weiteren Sternen an. Häufig als Schild des Kämpfers Orion dargestellt, wirkt dieses Sternenrund wie ein Ohr [oder eine Antenne]. So kommen in dem Bild Tatkraft und Sensibilität zusammen wie bei kaum einer anderen Sternenkonfiguration.
Wolfgang Held
in »das Goetheanum« 6·2020; S.4
Unsere Anmerkungen
a] ὁ Ὠρίων - vgl. Mbl-B.E: Anm.50 und WikipediA
b] offener Sternhaufen M45 im Sternbild Stier (zu den Tauben siehe Mbl-B.3a)
c] vgl. Mbl-B.3
d] siehe Ártemis
e] vgl. einerseits יעקב (Jakobs) zweimal siebenjähriges Dienen um לאה (Lea) und רחל (Rachel) in BERESCHITH (Gen.) 29,15-30, andererseits das Bestreben der Iroschotten, die Natur zu verwandeln, in Mbl-B.1
f] vgl. mit der fünften Zeichentat des Χ in Jh.6,16-21
g] antike Vorform des Christophoros-Motivs
h] vgl. Mbl.24
i] antike Vorform des Damaskus-Motivs (vgl. Mbl.27)
k] vgl. Mbl-B.36c
l] vgl. Mbl-B.E: Abs.752}
https://wfgw.diemorgengab.at/WfGWmblB24.htm