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Merkblatt-
Beilage 3b:
Schwäne und Störche
Karl König
Vogelschwarm über der St.Peters-Insel, Bieler See/CH © 2009 by DMGG
1 Die Vogelwelt
«Alle Vögel sind schon da, alle Vögel alle.» So sangen wir als Kinder, und wenn das Lied erklang, dann war der Frühling da, oder wir wollten ihn herbeisingen. «Amsel, Drossel, Fink und Star und die ganze Vogelschar», so hieß es weiter; und draußen stieg die Sonne immer höher, und im Seeleninnern erwachte die Freude. Die wiederkehrenden Vögel brachten uns Kindern das werdende Licht zurück. Beide gehörten zusammen: Frühling und das Erwachen der Vogelwelt.
Daß auch andere Tiere wieder erschienen, war - abgesehen von den Schmetterlingen, die uns den Sommer kündeten - nicht so wichtig. Aber die Ankunft der Vögel bedeutete das Kommen des Frühlings.
Seit langen Zeiten muß das für die Menschenseele so gewesen sein, daß Vogel und Sonnenwiederkehr miteinander verwoben waren; daß das mächtiger werdende Licht und die sich steigernde Wärme die Vogelwelt in sich beschloß. Wie die Fische zum Dasein des Wassers gehören, so die Vögel zum Leben der Licht- und Wärme-durchwirkten Luft. Das ist ihr Reich. Darin leben sie, während Wasser und Erde nur Beiwerk und Grenze sind, an die sie stoßen, sich aber nur schwer und selten mit ihnen verbinden können. Auch da gibt es, wie überall im Reich des Werdens, Ausnahmen; sie aber bestätigen nur die Regel und unterscheiden das waltende Gesetz.
Der Lebensraum der Vögel ist Luft, Licht und Wärme. In dieser Sphäre haben sie ihr eigenes Dasein, und dieses entfaltet sich in einer einzigen, groß angelegten Tätigkeit: dem Fliegen. Der Vogel kann fliegen; er braucht es nicht erst zu lernen. Als Küken ist er zunächst unfähig, sich in die Luft zu erheben; nicht aber weil er nicht fliegen kann, sondern weil er entweder noch keine Flügel hat oder der Leib für die kleinen Flügel noch zu schwer ist. Niemals aber muß ein heranwachsender Vogel das Fliegen von den Eltern lernen, wie etwa der kleine Seehund, der durch Wochen von der Mutter dazu gebracht wird, ins Wasser zu gehen, um Schwimmversuche zu machen.
Der Vogel fliegt, wie der Fisch schwimmt und die Vierbeinigen hüpfen und laufen. Denn die Federn haben es in sich; sie tragen den Vogel durch die Luft; er muß sich nur an sie hingeben, um vorwärts zu kommen. Es ist diese Hingabe an das Gefieder, die dem Vogel das Fliegen zur Selbstverständlichkeit macht. Das Gefieder ist über seinen Leib geworfen wie ein wunderbares Gewand, das ihn - gleich dem fliegenden Teppich im Märchen - über Länder und Meere dahinträgt. Nicht er fliegt; er wird geflogen, und seine Tätigkeit besteht darin, beim Fliegen nicht selbstisch zu sein, sondern hingegeben an sein Gefieder. Sobald der Vogel versuchen würde, selbst seine Flügel zu betätigen, wäre es mit dem Fliegen vorbei. Was er zu tun hat, ist das Sich-Eingliedern in die Strömungen der Luft und der Wärme, die über die Erde ziehen. Die Wellenstöße und Windfahnen der Luft tragen ihn dahin. Er empfindet das Wehen des Windes, das Weben der Wärme, das Flimmern der Hitze; damit ist sein Dasein vereint, und dieses Eins-Sein mit dem Element steuert den Flug.
Die Muskelpakete an Brust und Armen sind erstaunlich zart im Vergleich zu der Leistung, die sie zu vollbringen hätten, wenn man annähme, daß es Muskelkraft ist, die den Vogel fliegen macht. Die Muskel betätigen nicht, sondern stellen die Flügel; sie breiten sie aus und ziehen sie zusammen, heben und senken sie. Zum Anflug und Landen werden sie gebraucht. Das Fliegen selbst aber vollzieht das Gefieder. Es ist ein geheimnisvolles Gebilde, das erst entsteht, nachdem die Hauptphasen der embryonalen Entwicklung vollendet sind. Es wird von außen dem Vogelleib angefügt, gibt ihm Form und Gestalt und hüllt den nackten, armseligen Körper allmählich in Schönheit und Würde ein. Dieses Gefieder ist wie ein Mantel, aus Kräften gewoben, die nicht der Erde und dem Wasser, sondern der Luft, der Wärme und dem Lichte angehören.
So können wir verstehen, wenn Rudolf Steiner davon spricht, daß der Vogel seine Knochen und Organe etwa so erlebt, wie wir Lasten empfinden, die wir - wie Koffer und Rucksack - zu tragen haben. «Gerade so wenig wie Sie von diesen Dingen, mit denen Sie bepackt sind, als von Ihrem Leibe reden ..., so redet der Vogel, wenn er von sich redet, bloß von der von ihm erwärmten Luft und von dem anderen (Knochen und übriger Leib) als von dem Gepäck, das er mitträgt im irdischen Dasein.»¹
Der Vogel identifiziert sich - sozusagen - nur mit der von ihm eingeatmeten und durchwärmten Luft. Alles andere ist ihm fremd; ist nicht sein Eigen, sondern seine Last. Dieses «Gepäck» aber, der Vogelleib, ist von beonderer Bauart. Er ist in allen seinen Teilen wie zusammengedrängt und gestaut.
Alle Organe des Vogels sind in einen kleinen Raum hineingestopft; man könnte fast sagen, daß sie wie zusammengepackt im «Rucksack» von Brust und Bauch liegen. Da sind Herz und Magen, Lungen und Darm, Nieren und Fortpflanzungsdrüsen ... alles zusammen. Dieser Raum ist kaum ein Bauch zu nennen, weil er von den Rippen fast völlig umschlossen und vorne durch ein mächtiges Brustbein versiegelt ist. Das ist das «Gepäck», das der Vogel mit sich trägt. Vieles daran ist in Anordnung und Beschaffenheit noch sehr primitiv. Noch gibt es keine Harnblase, sondern Kot und Harn werden durch eine gemeinsame Kloake entleert. Auch ein Dickdarm fehlt und kein Zwerchfell scheidet die Brust vom Bauch.
Dafür aber wird der Kopf auf einem oft überlangen, manchmal auch kurzen Hals herausgestreckt. Dieser Kopf aber ist keineswegs ein Haupt, sondern viel eher ein Anhang, ein Stiel mit Augen darin und, nach vorne zu, sich in den Schnabel verhärtend. Dieser Schnabel bestimmt weitgehend die Physiognomie der einzelnen Gattungen und Arten; er ist für den Vogel, was für den einzelnen Menschen physiognomisch die Nase ist. Den Vogel kennt man wohl am Gefieder; wes Vogels Kind er aber ist, das sagt allein der Schnabel.
Die Gliedmaßen - wenn sie federlos sind - machen einen armselig verkümmerten Eindruck. Da die Beine meist nackt bleiben, sind sie oft so enttäuschend kärglich in ihrer Figur. Arm, alt und hilflos wirken sie auf den Betrachter. Die von Federn befreiten Arme sind nur Mißbildungen zu vergleichen. In bekleidetem Zustand hingegen zeugen sie meistens von der Macht, Schönheit und Grazie des Vogels. In diesen Flügeln entfaltet sich die wahre Natur des Vogelgeschlechtes. Sie tragen ihn durch die Luft; sie geben ihm das Leben im Element von Licht und Wärme.
Deshalb hat Gerlach recht, wenn er die Einleitungsworte zu seinem schönen Vogelbuch² so formuliert: «Die Vögel sind aus leichterem Stoff als wir. Sie gehen nicht auf schweren Sohlen über die Erde. Die meisten von ihnen berühren den Boden leise mit den Zehen, stets bereit, sich aufzuschwingen. Die Luft ist ihnen der Raum unbegrenzter Bewegung - nicht ein Trennendes, sondern die Brücke zu allen Wünschen. Schnell wie Gedanken erreichen die Vögel ihre Ziele.»
Der «leichtere» Stoff [a] aber ist die mehr mineralisierte Substanz; der Vogel scheidet z.B. fast ausschließlich einen mit Harnsalzen inkrustierten Kot aus. Alles an seinem Körper ist wie vertrocknet. Die Haut hat keine Schweißdrüsen mehr; die Federn sind mineralisierte und leblose Horngebilde, die Beine und Zehen sind knöchern und sklerotisch.
Der Leib ist bis in die Schäfte der langen Röhrenknochen hinein durch ein System von Luftsäcken durchlüftet. So wird der Vogelkörper zu einem Ballon, der sich leicht erheben und schwebend im Luftraum halten kann. Dadurch aber werden auch der Atem und die damit zusammenhängenden Organe zum Zentrum des Vogellebens.
Aus diesem Aufbau aber erfließt die zweite, groß angelegte Tätigkeit des ganzen Vogelgeschlechtes: Es tönt und singt von innen heraus. Kein anderes Tier kommt auch nur in die Nähe dieser einzigartigen Fähigkeit. Der Vogel meistert manchmal die Ton- und Klangerzeugung bis zu einem solchen Grad, daß er nicht nur singen kann, sondern einzelne seiner Arten, wie Papagei und Wellensittich, Raben und Stare, den Klang der menschlichen Stimme mit solcher Perfektion nachahmen, daß es zur Aussageformel erhoben wird. Das hat mit dem Sprechen nichts zu tun, zeigt aber die intime Kontaktfähigkeit an, die der Vogel zu allem Tönenden hat. Diese Fähigkeit kommt ihm deshalb zu, weil die Luft das Klingende trägt, wie den Vgel auch. So wird Klang und Vogel, Tönen und Fliegen zum Ausdruck für die Welt der Luft, in der Wind und Wärme und Licht sich wiegen.
In diesem Element spielt sich das Dasein der Vögel ab. Sie umgeben die Erde mit ihrem Flug und mit ihrem Gesang. Die Atmosphäre ohne Vögel ist eine Abstraktion. Das Lied und der Schrei, der Pfiff und der Ruf, das Krächzen und Kreischen der Vögel gehört zur Luft, wie der Flug und der Flügelschlag, das Flattern und Schweben und Schwirren auch. Noch füllt das Vogelgeschlecht den Luftraum unseres Planeten.
2 Nesthocker und Nestflüchter
Nur an einer einzigen Stelle berührt der Vogel die Erde selbst. Nicht dort, wo seine Zehen sie gerade noch betasten; das ist ein sehr oberflächlicher und flüchtiger Kontakt. Das Hüpfen und Trippeln und das Ein-Bein-vor-das-andere-Setzen ist keine Berührung. Es ist vielmehr eine Folge der Nahrungssuche, die sich vollziehen muß; nicht der Vogel, der Schnabel allein fordert diese Maßnahme. Dagegen ist das Nest ein Gebilde, das den Vogel zum Erdentier macht. Er baut es sich zusammen aus allen möglichen Substanzen und wird im Nest - für eine kurze Spanne Zeit - zum Erdenbürger. Mit Erde und Schlamm, aus Zweigen und Steinchen, Moos und Blättern, Mist und Sand wird der Nestbau betrieben. Gestalt und Art der Nester sind so vielfältig wie die Gattungen und Geschlechter der Vögel; jede Gattung baut das ihr eigene Nest.
Diesem Nest wird das Gelege (eine für jede Art charakteristische Zahl an Eiern) anvertraut, und dann beginnt die Zeit des Brütens. Mit einem Wärmemantel wird das Gelege umhüllt, so daß im Haus des Nestes ein Herd bereitet wird, in dessen Brutwärme die kommenden Geschlechter ausgebacken werden. Es ist ein Ur-Back-Prozeß, der sich da vollzieht. Was noch bei Fischen und Lurchen, bei Reptilien und allen wirbellosen Tieren die Elemente selbst vollziehen, wird hier vom individuellen Tier vollbracht.[b]
Das Säugetier hat diesen Vorgang ins Innere des weiblichen Organismus verlegt. Die Gebärmutter ist dort zum organischen Nest geworden. Der Vogel baut sich ein Gehege, das er durch einige Wochen des Jahres zum Brutofen macht. Es wird dann zum Nabel, an dem der einzelne Vogel das irdische Reich berührt. Hier wird der sonst Heimatlose seßhaft und irdisch. Zweierlei Arten von Jungen kriechen aus dem Ei. Die eine Gruppe ist hilflos und nackt. Die andere mit Flaumfedern und Daunen bedeckt, ist frech und sofort zum Leben und seinen Akten bereit. Wir nennen seit Lorenz Oken die erste Gruppe die Nesthocker und die zweite die Nestflüchter. Oken hat die Klasse der Vögel in diese zwei großen Ordnungen gegliedert. Er schreibt darüber in seiner großangelegten Naturgeschichte³: «Man hat die ganze Classe der Vögel in zwei Haufen eingetheilt, in Land- und Wasservögel, und unter diese auch die Sumpfvögel gerechnet. Dadurch entsteht aber eine große Ungleichheit, indem die Zahl der Landvögel gar zu groß ist.
Hier sehe ich auf die Entwicklung der Vögel. Die einen kommen nackt und blind aus dem Ey, und müssen daher lange Zeit geätzt werden. Ich nenne sie Nesthocker. Dahin gehören alle kleinen Vögel, besonders Singvögel, Klettervögel, Raben, Tauben und auch die Raubvögel.
Die anderen kommen kommen schon ziemlich befiedert und sehend aus dem Ey, und können fast sogleich davon laufen und ihre Nahrung suchen. Ich nenne sie Nestflüchter. Dahin gehören die größeren Vögel, wie die Hühner, Reiher, Gänse und Trappen ...
Der Gang der ersteren ist hüpfend, der der zweyten schreitend; man könnte sie Hüpfer und Schreiter nennen. Jene halten sich hoch und ihre Hauptaufgabe ist der Flug; diese halten sich immer auf der Erde und im Wasser, und fliegen nur wenn es noth tut; man könnte sie Flieger und Läufer nennen.»
Einer modernen Systematik würden diese Ideen und Vorschläge Okens nicht mehr entsprechen. Sie stimmen nicht, denn sie haben zu viele Ausnahmen von der hier erdachten Regel. So ist der Storch zum Beispiel und alle ihm zugehörigen Arten und Familien, wie Reiher und Ibis, ein Nesthocker. Aber er ist - im Okenschen Sinne - ein Schreiter oder Läufer. Auch gibt es viele Übergänge von nesthockenden und nestflüchtenden Jungen, so daß diese vor mehr als hundert Jahren versuchte Gliederung des Vogelgeschlechtes nicht mehr gültig ist⁴.
Dennoch liegt in der Okenschen Beschreibung ein wesentliches Prinzip verborgen, das in dieser Zweiheit von Nesthocker und Nestflüchter zutage tritt. Wir müssen nur versuchen, es in der richtigen Art verstehen zu lernen. In vielen Art- und Formkreisen, durch alle Klassen der Tiere hindurch, gibt es diese Zweiheit, in der sich die erste Weltbegegnung der Neugeborenen vollzieht. Da ist der Embryo des Känguruhs, der so unvollständig ist, daß er in die «Tasche» der Mutter gesteckt wird und sich dort mit den Lippen an ihren Zitzen festsaugt; oder die blind und hilflos geborenen Raubtiere, im Gegensatz zu den flinken und schnell sich aufrichtenden Huftieren. Die Kaulquappen, die Frösche werden müssen; die Raupen, die sich verpuppen und dann erst ihre Endgestalt als Imago erreichen. Der Nesthocker - ob bei den Vögeln oder anderen Tieren - ist noch eine Art Larve, die Schutz braucht, um sich allmählich zur vollendeten Form ausgestalten zu können.
Beim Vogel geschieht diese Vollendung dadurch, daß das Federkleid sich entfaltet. Es wächst an den kleinen, armseligen Leib heran, umhüllt ihn immer mehr, bis er zum Fliegen bereit ist. Auch die kleine Gans oder Ente und die Küken der Hühner und Schwäne haben zunächst keine richtigen Flügel und Federn; sie sind aber vom Flaum umhüllt und können gleich hüpfen, laufen, watscheln und schwimmen.
Es gibt zwei Arten von Federn: die zarten Daunen und die steifen, formgebenden Konturfedern. Die Daunen sind locker, weich, haltlos und mehr wie ein Flaum, der deckt und wärmt. Sie sind die ersten Hüllfedern, die das Neugeborene umgeben.[c]
Die Konturfedern wachsen ganz allmählich heran und bilden die eigentlichen Flugfedern. Die bekannte Straußenfeder zum Beipiel ist eine Daune und deshalb zum Flug ganz unbrauchbar; solche Federn sind ihren Trägern und Trägerinnen ein nutzlos alberner Anhang.
Was unterscheidet aber die Nestflüchter von den Nesthockern? Nicht nur die offensichtliche Fähigkeit oder Unfähigkeit, unbeschützt zu leben. Es ist noch ein anderes, das tief in den Werdeprozeß der einzelnen Vogelarten einbezogen ist und auf ihn hinweist.
Die Nestflüchter sind Vögel, die der Erde viel näher gerückt sind als ihre Brüder, die Nesthocker. Die Nestflüchter müssen nicht warten, bis ihnen ihr Federkleid gewachsen ist, um sich bewegen zu können. Sie entschlüpfen dem Ei und beginnen ihr Tun. Das kleine Hühnchen pickt und trippelt, es quiekt unermüdlich, und obwohl es der Mutter folgt, ist es schon selbständig geworden. So gehen die jungen Entlein in den Teich, und die kleinen Schwäne am ersten Tag so weit, daß sie von den Eltern auf dem Wasser ausgeführt werden können. Das Fliegen - wenn es überhaupt kommt - entwickelt sich später und wird dann hinzugenommen. Es ist aber nicht mehr unbedingt notwendig als einzige Form der dem Tier eigenen Motorik.
Die Nesthocker aber sind erdenfremd geblieben.[d] Sie werden als ein Bündel Fleisch und Leben ins Nest hinein geboren. Darin aber würden sie hilflos liegen bleiben, wenn nicht die Eltern von vorne und hinten nachhülfen, das Wachstum und Leben in Gang zu halten. Das Futter muß nicht nur geholt, sondern auch vorverdaut und dann in den offenen Schnabel gesteckt werden. Der sich bildende Kot muß mit dem Schnabel der Mutter vom After des Kindes entfernt und aus dem Nest befördert werden. An kühlen Tagen und nachts wird der Brutofen wieder in Gang gesetzt und umhüllt die Kleinen mit Wärme, weil sie selbst noch unfähig sind, ihre Eigenwärme zu produzieren. Erst wenn das Gefieder gewachsen ist, die Schwungfedern an den Flügeln stehen und die Schwanzfedern sich entwickelt haben, ist der Nesthocker zum Vogel geworden. Jetzt ist er fähig, in seinem Element, in Licht, Luft und Wärme zu leben.
Wir können daher die Nestflüchter als die dem Erdendasein besser angepaßten, mehr in das irdische Element eingegliederten Vögel ansprechen. Die Nesthocker hingegen sind die mehr kosmisch gebliebenen Tiere; sie ziehen sich von der Erde zurück und wollen erst mit ihr sich verbinden, wenn das Federkleid sich entwickelt hat.
Das Gefieder ist wie ein Mantel, der den Vögeln, nachdem sie ausgeschlüpft sind, allmählich übergeworfen wird. Wie von außen, vom Umkreis her entstehen die Federn. Deshalb sagt auch Rudolf Steiner sehr eindeutig: «Eine Vogelfeder kann nur dadurch entstehen, daß die Kräfte, welche von dem Weltraum auf die Erde herunterwirken und mitwirken bei der Ausgestaltung der Vogelfeder, stärker sind als die Kräfte, die aus der Erde kommen. Dasjenige, was der Feder zugrunde liegt, was man als den Schaft der Feder bezeichnet, das unterliegt allerdings gewissen Kräften, die aus der Erde kommen. Es sind aber die Kräfte, die aus dem Weltraum wirken, die dasjenige angliedern, was sich an den Schaft der Feder anfügt und was konstituiert das äußere Gefieder des Vogels.»⁵
Diese kosmischen Gestaltungskräfte, die dem werdenden Vogel das Federkleid überwerfen, stammen aus jenen Regionen, aus welchen die Vogelwesenheiten sich nie ganz herausgelöst haben. Denn es kann nicht so gewesen sein, als hätte sich einstmals das Vogelgeschlecht von der Erde in den Luftkreis erhoben; das heißt, daß es sich aus primitiven Reptilgestalten dadurch entwickelte, daß ihm in unzähligen Jahren Flügel gewachsen sind, und daß es dann gelernt hat, sich in die Luft zu erheben. Eine solche Vorstellung ist nicht nur unbiologisch; sie ist auch - richtig gesehen - völlig unhaltbar. Die Vögel entwickelten sich im Laufe der Erdgeschichte von oben, aus dem Luftkreis nach unten, zur Erde hin. Sie stammen aus den Höhen und haben sich - mehr oder weniger tief - mit der Erde eingelassen. Ein Archaeopteryx war niemals ein Urvogel, sondern eine zu tief gefallene Vogelform, die dadurch Reptilienmerkmale annahm. Es handelt sich um einen Endprozeß der Entwickelung, nicht aber um einen Anfang. Der Archaeopteryx ist ausgestorben, weil er gar nicht weiterleben konnte. Niemals aber haben die Vögel wie der Mensch oder die Säugetiere die Erde ganz ergriffen und bejaht. Sie mußten der Erdennot enthoben bleiben; sie enthielten sich der Erdenschwere und der Erdenpein.
Das will auch Rudolf Steiner andeuten, wenn er sagt: «Wir haben in der Vogelnatur solche Wesenheiten, die zwar nicht die niedersten Funktionen aufgenommen haben, die aber nach oben den Punkt übersprungen haben. Sie sind gleichsam nicht tief genug heruntergestiegen ... Und als die Entwickelung immer weiter und weiter ging, mußten sie schon durch die äußeren Verhältnisse verdichtet werden ... Diesen Vogelnaturen entsprechen als Urbilder diejenigen geistigen Wesenheiten, die auch nach oben den Punkt überschritten haben, die sich in einer zu weichen geistigen Substanz erhalten haben, und die daher in ihrem Fortschritt gleichsam über das, was sie hätten in einem bestimmten Zeitpunkt werden können, hinausflogen.»⁶
Nun aber wird erst das Prinzipielle der Vogelwelt anschaubar. Es sind Geschöpfe, die sich dem Erdendasein, insofern es erdig, hart und mineralisch wurde, genähert haben, die es aber nie ganz erreichen konnten. Wesen, die den Tierwerdungsprozeß mitgemacht haben, die ihn aber nicht bis zur irdischen Vollendung durchführten. Hätten sie es getan, dann würden sie ihr Federkleid abgeworfen haben, wie es die sieben Raben und die sechs Schwäne im Märchen tun.
So aber bleibt den Vögeln das Gefieder, wie den Säugern die Haare und den Reptilien und Fischen die Schuppen bleiben. Sie verweilen in ihrer Verzauberung. Die einen zu hoch erhoben; die anderen zu tief gesunken.

Die Nestflüchter waren auf dem Weg zur Erde; sie haben sie aber nur gesucht, jedoch nicht erreicht. Die Nesthocker hingegen hatten Furcht vor der zu starken Vereinigung mit dem wässerigen und erdigen Element. So müssen sie hilflos im Nest der Erde liegen bleiben, bis das Gefieder ihnen zu Hilfe kommt, sie erhebt und be-flügelt. Dafür aber können sie singen und pfeifen, trillern und flöten. Auch sie sind Teil der gesamten Schöpfung.

ברבור
Seeschwan im Moos bei Ins/CH © 2009 by DMGG
 
3 Der Schwan
Die große Familie der Schwäne, die viele Teile des Erdkreises bewohnt, gehört zur weitumfassenden Ordnung der Gänse- oder Entenvögel. Wir kennen manche der vielen Arten dieser über das Erdenrund verbreiteten Gruppe der Vogelwelt. Von der Arktis, über die nördlichen Gebiete von Asien, Europa und Amerika reichen sie bis über den Äquator hinaus in die südlich gelegenen Kontinente. Nur auf dem Südpol und seinem Umkreis sind sie nicht mehr zu finden. Die Eiderenten und Tauchenten, die Säger, die uns bekannte Stockente und die Hausgans, die Rostgans und Brandgans seien nur als einige Namen genannt, um die Fülle der Arten, Färbungen und Lebensweisen anzudeuten, die in der Vielfalt dieser Ordnung gefunden wird.
Wir kennen das Treiben der Wildenten auf den Teichen und Seen im Flachland und im Gebirge. Sie leben aber auch an den Buchten und Dünen des Meeres, und zu Tausenden fliegen sie im Herbst auf ihrem Zug nach Süden.
Ihre elementarische Heimat ist jenes Grenzland zwischen Luft und Wasser, wo die Luft an die spiegelnde Fläche der Seen, Teiche, Flüsse und Meere angrenzt. Alle Gänsevögel können schwimmen ; fast alle können fliegen, obwohl ihnen der Flug oft schwerer wird als das Schwimmen. Besonders Start und Anflug gehen nur langsam und mit Mühe vor sich. Die Flügel müssen gewaltige Anstrengungen machen und Füße - über das Wasser gleitend - nachhelfen, bis eine gewisse Höhe gewonnen ist. Dann aber geht es leicht und schnell vorwärts; mit lang vorgestrecktem Hals und eingezogenen Füßen eilt der Entenzug dahin.
Ihre Schnäbel sind etwa so lang wie der Kopf, nach vorne leicht verbreitert (Löffelente!), und die Oberseite ist konkav gewölbt. Der Schnabel ist von einer weichen Haut, die viele Tastkörperchen enthält, bedeckt und dadurch fein empfindend. Die Füße sind kurz, meist plump und bei vielen Arten, wie den Schwänen, sehr weit nach hinten am Körper ansetzend, so daß der Gang mühsam und oft wie watschelnd ist.[e] Die vier Zehen sind durch Schwimmhäute verbunden und geben dem Fuß ein sehr plumpes Aussehen. Das Gehen ist nicht ihr Geschäft. Sie sind alle Schwimmer und Taucher, ihr Leben spielt sich auf der Oberfläche des Wassers ab.
Nur zum Brutgeschäft und Nestbau gehen sie an den Strand, an die nahen Ufer der Gewässer, und manche ziehen sich sogar tief ins Dickicht der angrenzenden Wälder und Sümpfe oder in Baumhöhlen zurück. Die junge Brut gehört zu den Nestflüchtern. In wenigen Stunden nach dem Ausschlüpfen sind sie schon bereit, mit den Eltern zusammen ins Wasser zu gehen, und sie wissen genau, wie zu schwimmen und zu tauchen ist.
Ein Glied dieser Ordnung bilden die Schwäne. Sie sehen allen Enten und Gänsen ähnlich und sind dennoch von ihnen verschieden. Wenn man sie sieht, hat man unmittelbar den Eindruck einer zur Schau getragenen Exklusivität. Man kann verstehen, daß in Großbritannien alle Schwäne, wo immer sie auftauchen und sich niederlassen, Eigentum der Krone sind. Der jeweilige Monarch ist ihr Besitzer, und bei Grafen und Bauern, Baronen und Bürgern sind sie nur zu Gast. Königliche Besucher sind sie, Gesandte einer höheren Macht. Jeder empfindet es als eine Ehre, ihres andauernden Besuches gewürdigt zu werden. Unter den übrigen Entenvögeln nehmen sie sich wie Adelige aus. Sie haben etwas Unnahbares, das sie umgibt, wenn sie in stolzer Schönheit über das Wasser dahingleiten. Dann wirkt ihr Leib - in ein dunkles oder helles Federkleid eingehüllt - wie ein Kahn, der dahinzieht, und an seinem Vorderende steigt der lange, S-förmig getragene Hals auf, der gleich einer Galionsfigur in Kopf und Schnabel übergeht: ein stolzer, oft mächtiger Anblick, besonders wenn die Flügel, leicht aufgestellt und verbreitert wie ein Schild, das Boot des Leibes beschirmen.
Die Schwäne gehören zu den größeren Vögeln ihrer Ordnung. Sie leben meistens monogam, und die einmal vereinten Gatten bleiben für Jahre zusammen. Wenn im Herbst eine Wanderung angetreten wird (das geschieht nur in den nördlichen Gebieten der Erde), dann kehren sie gemeinsam zum alten Nistplatz zurück, um ihr Nest zu beziehen, die Eier durch sechs bis acht Wochen zu bebrüten und die Jungen aufzuziehen. Nachdem die jungen Schwäne einigermaßen selbständig geworden sind, werden sie von den Eltern verlassen und wie Fremde behandelt. Sie müssen - um sich ihres Gänse-Adels bewußt zu werden - von nun an allein ihr Dasein erobern.
Brehm gibt von der Verbreitung der Schwäne die folgende Darstellung⁷: «Mit Ausnahme der Tropen bewohnen die Schwäne, von denen neun Arten beschrieben werden, alle Erdgegenden, am häufigsten die gemäßigten und kalten der Nordhälfte. Das Verbreitungsgebiet jeder Art ist sehr ausgedehnt und die regelmäßigen Reisen der Schwäne erstrecken sich auf weite Entfernungen. Alle Arten wandern, nicht aber unter allen Umständen; denn einzelne verweilen nicht selten während des Winters im Lande oder streichen hier wenigstens nur innerhalb eines kleinen Gebietes auf und nieder.»
Wir kennen vor allem den Höckerschwan, der auf unseren Teichen und Flußarmen lebt. Oft sind es große Gruppen, die miteinander ein weites Stück des Gewässers in Besitz genommen haben. Sie suchen die Nähe der menschlichen Siedlungen. Kleine Flüsse, die an alten Stadtmauern vorbeifließen, Weiher in der Nähe von Klöstern, stille Teiche in alten Gärten, abgelegene Flußarme, an denen Dörfer liegen, sind ihr Heimat.
Das schlohweiße Gefieder, der rote Schnabel und der dunkle Höcker am Schnabelansatz geben diesem Schwan seinen fürstlichen Charakter.
Höher im Norden lebt der Singschwan. Er ist etwas kleiner, gehört aber zu jener Art, von der die Griechen erzählten, daß sie jährlich mit Apollo vom Norden nach Delphi [f] gekommen ist; auf ihren Flügeln schwebte der Gott herbei, Botschaft aus dem Lande der Hyperboräer bringend. Viele Beobachter berichten von der seltsamen, manchmal glockengleichen Stimme dieser Art; und von ihr wird auch gesagt, daß - ehe ihre Genossen sterben - sie noch singen. Sie ziehen aus ihrer isländischen und skandinavischen Heimat während des Winters in die Gegenden Mitteleuropas. Auch weit nach Rußland und Sibirien hin sind sie zu Hause.
In Südamerika, von Peru bis zu den Falklandinseln und in Brasilien nistet der Schwarzhalsschwan. Sein Gefieder ist weiß, aber Hals und Kopf sind von schwarzen Federn umhüllt. Der Höcker am grau-gelben Schnabelansatz ist rot und die Flügel sind kurz. Trotzdem sind sie gute Flieger.
Der dunkelgefärbte Trauerschwan lebt in Südaustralien und Tasmanien. Unter der schwarzbraunen Federdecke ragen die weißen Schwungfedern hervor und erzählen von seinen nördlich lebenden Brüdern.
Ein seltener Verwandter ist noch der Zwergschwan der nördlichen Gebiete, der etwas kleiner ist als die anderen Artgenossen und sich nur schwer vom Singschwan unterscheiden läßt.
Das Bild ihrer geographischen Verteilung zeigt ganz eindeutig, daß die Schwäne dem Norden der Erde zugehören. Ganz oben, in der arktischen Region lebt der Singschwan. Weiter nach Süden, in den gemäßigten Zonen, ist das Lebensgebiet des Höckerschwans. In der Arktis Sibiriens wohnt der Zwergschwan.
Die tropischen Gebiete aber werden gemieden; nach Süden zu, sich dunkel verfärbend, erscheinen die beiden, in Südamerika und Australien ansässigen Arten: der Schwarzhals- und der Trauerschwan. Diese Verteilung ergibt eine sehr eindrucksvolle Figur des Schwanenwesens über die Erde hin.
Obwohl sie Wasservögel sind, brauchen sie das Land; denn sie bauen ihre Nester auf der sumpfigen oder trockenen Erde. Niemals aber fliegen sie von der Erde auf; um sich in die Luft erheben zu können, benützen sie das Wasser als ihre Piste; sie landen auch niemals auf dem Boden, sondern allein im Wasser, mag es auch seicht sein.
Es ist verständlich, daß diese Edlen im Geschlecht der Enten und Gänse den Menschen heilig waren und feierliche Gefühle in ihnen erweckten. Die adelige Schönheit und Würde, die sie ausstrahlten, ruft in den Menschen jene ersten Empfindungen hervor, die ihn auf Höheres hinweisen.
Der Schwan ist aber keinesfalls ein sanfter Herr. Er ist angriffslustig, stark und leicht im Zorn entflammt. Wütend schlägt er dann mit dem Schnabel und Flügel zu und nimmt es sogar mit wilden und kräftigeren Gegnern auf. So wird er auch zu einer ritterlichen Gestalt. Sein weißes Gefieder gibt ihm den Glanz der Unberührtheit und seinen adeligen Ernst; sein Mut macht ihn zum Ritter.
Empfinden wir nicht, wenn wir ihn anblicken, daß es höhere Seelengebiete gibt als die alltäglichen? Dort sind wir Gänse und Enten, dumm und unbekümmert, freudig und schmerzlich berührt. Aber darüber lebt auch der Schwan in uns. Der hehre Seelenvogel, der aus dem hohen Norden kommt und oft nur wie ein Gast uns besucht und wieder fortzieht. Wollten wir uns ihm weihen, dann wurden wir im Mittelalter Mitglied eines der vielen Schwanenritterordens, die es damals gab. Ihr Wappenvogel war der weiße Schwan, der den Rittern gebot, sich über ihr Gänse- und Entendasein zu erheben und in dienendem Stolz ihr Leben zu führen.
חסידה
Stiftsstorch am Kamp bei Zwettl/AT © 2009 by IrRI
4 Der Storch
Eine völlig andere Luft umweht den Storch. Welcher Unterschied zwischen dem still dahingleitenden Schwan und dem auf sumpfigen Wiesen einherschreitenden Adebar! Der eine verbirgt seine häßlichen, kurzen und plumpen Beine, die nur als Ruder dienlich und hilfreich sind. Der andere steht wie auf zwei langen Stöcken da, die auch noch rot gefärbt sind, um sie auffällig zu machen. So lang wie seine Beine ist auch der Schnabel des Storches; überlang und oft so groß und schwer (beim Marabu z.B.), daß er den Kopf nach unten zieht.
Hier scheint sich eine allgemeine Regel im Bau der Vögel anzudeuten: daß Form und Größe des Schnabels und der Beine einander entsprechen. Wird der Schnabel klein, so sind auch Füße und Beine kurz. Der gekrümmte und harte Hakenschnabel der Raubvögel gibt auch den Füßen die Krallen. Dieser Gleichklang der zwei hervorstechenden Teile des Vogels tritt bei den Störchen sehr deutlich hervor.
Es ist eine seltsame Ordnung, in der die Familie aller Störche eingereiht ist. Man faßt sie als Schreitvögel (Gressores) zusammen und weist mit dem Namen schon auf ihr besonderes Merkmal hin: den Gang. Vier Familien bilden diese Ordnung: Die Reiher, die Ibisse, die Schattenvögel (Hammerköpfe) und die Störche.
Schon allein die Namen lassen diese Gruppe von Vögeln in ihren verschiedenen Formgebärden vor uns erscheinen. Allen ist ein gemeinsamer Typus eigen: die verhältnismäßig langen, dünnen Beine; der übergroße, spitz auslaufende Schnabel, der an einem schmalen Kopf wie die Fortsetzung des langen Halses sitzt. Hals, Kopf und Schnabel, diese drei sind fast zur Gliedmaße geworden, die dauernd in schnellenden und schlendernden Bewegungen die Nahrung ergreift. Die Schreitvögel sind Raubtiere. Sie fressen alles, was sich um sie herum bewegt: Frösche und kleine Kröten, Würmer, Eidechsen, Käfer, Muscheln, Fische, selbst kleine Vögel, junge Hasen, Maulwürfe und Mäuse. Ein Hieb oder Stich mit dem Schnabel, und die erlegte Beute wird verschlungen. Es ist gar nicht so leicht, aus dem Anblick der Gestalt allein auf diese Lebensart zu schließen; denn sie schauen zahmer aus, als sie wirklich sind. Aber das «Rot», das bei den einzelnen Arten an den verschiedensten Stellen ihres Leibes hervortritt, verrät etwas von dem kriegerisch-angriffshaften Charakter ihres Temperamentes. Man könnte sie als grausame Melancholiker bezeichnen. Das seichte Gewässer - ob Teich, See oder Fluß - ist ihr Jagdgrund. Am Strand und Ufer zwischen Ried und Binsen, Papyrus und Weiden leben sie.
Ihre Nester hingegen bauen sie, mit wenigen Ausnahmen, hoch oben in den Kronen der Bäume oder, wie der menschennah gewordenen Hausstorch, auf Dächern. Große Äste und Zweige werden gesammelt, um den meist runden, großen Horst zu errichten. Er wird vor Beginn der Brutzeit mit Moos und Mist, mit Stroh und Blättern ausgepolstert, um dem Gelege ein richtiges Bett zu bereiten.
Die junge Brut sind alle Nesthocker. Völlig hilflos liegen sie in den ersten Wochen da; sie müssen von den Eltern gefüttert und gesäubert werden und brauchen auch den elterlichen Schutz gegen zu große Kälte oder Hitze. Wir verdanken Horst Siewert so detaillierte Beobachtungen an brütenden schwarzen und weißen Störchen, daß wir heute diese Vorgänge bis in alle Einzelheiten kennen.⁸ Dort wird beschrieben, wie die im Magen der Eltern vorverdauten Frösche im Nest wieder hervorgewürgt, vor der hungrigen Brut ausgebreitet liegen und dann zerkleinert in die offenen Schnäbel gestopft werden. Es wird auch erzählt, wie an kühlen Abenden er und sie sich über das Nest setzen, um die Kleinen zu wärmen; daß aber an heißen Tagen, wenn die Sonne auf den Horst scheint, die Alten sich so an den Nestrand stellen, daß die hilflosen Kinder in ihren Schatten zu liegen kommen.
Es dauert dann viele Wochen, bis die Konturfedern wachsen, die Beine standfest werden und die ersten Schritte an den Rand des Nestes möglich sind. Mit ungeschickten Flügelschlägen fliegt der junge Schwarzstorch am Nistbaum von einem Ast zum nächsten, kommt aber schnell wieder ins Nest zurück. Bis eines Tages plötzlich der Bann gebrochen ist und Eltern und Kinder gemeinsam auf Raub und Jagd gehen.
Wo die eigentliche Heimat der Schreitvögel ist, kann nicht leicht gesagt werden. Sie sind überall auf der Erde zu Hause, mit Ausnahme des hohen Nordens. «Die Reiher bewohnen alle Erdteile, alle Höhen und mit Ausnahme der hoch nordischen alle Länder. Schon innerhalb der gemäßigten Zone treten sie zahlreich auf, in den Wendekreisländern aber bilden sie den Hauptbestandteil der Bevölkerung der Sümpfe und Gewässer. Einige Arten scheinen das Meer zu bevorzugen, andre Flüsse, wieder andre Sümpfe; einige lieben freiere Gegenden, andre Walddickicht oder Wälder überhaupt.»⁹
Auch die Ibisse (der heilige Ibis der Ägypter, der Sichler, der Löffler, der Hagedasch Ostafrikas gehören dazu) leben in allen südlichen Teilen der Erde. Nördlich sind sie bis in die Sumpfgebiete der Donau zu finden, vor allem aber in Afrika, Südamerika und in den gesamten südasiatischen Gebieten und Australien. Auch der Schattenvogel lebt in Afrika, einschließlich Madagaskar, ferner in Südarabien.
Diese drei Familien der Schreitvögel haben ihre größte Bevölkerungsdichte in den mehr tropischen und subtropischen Gürteln der Erde. Sie meiden die Kälte und den Norden. Ihre Lebenssphäre ist immer das Übergangsland von Wasser und Erde. Wo die Wasser seicht werden, wo Sümpfe und Moore sich bilden und das irdische und flüssige Element sich begegnen, dorthin tritt der Fuß der Schreitvögel, und ihr Schnabel dringt ein in diesen Bereich organischen Daseins. Sie sind sozusagen einen Stock tiefer als die Entenvögel gestiegen, denn diese reichen nur bis ins Grenzland zwischen Luft und Wasser.
Aber nur mit Schnabel und Fuß dringt der Schreitvogel dort ein, wo Erde und Wasser einander begegnen; seinen übrigen Leib hält er aus dieser Schicht heraus und bleibt der Luft allein verbunden. Ja, zum Bau des Nestes verläßt er diese Sphäre ganz, hebt sich aufwärts in die Kronen der Bäume, um dort seine Jungen zu erwarten und zu pflegen. Trotzdem er tief hinunter steigt, bleibt er dennoch oben und vermeidet es, sich mit der Erde zu verschwistern. Er nimmt von ihr lebendige Nahrung, aber er läßt sie, wo sie ist; er tritt sie mit seinen Füßen, aber er betritt sie nicht.
Die Störche sind die einzige Familie der ganzen Ordnung, die wenigstens einen Versuch machen, der Erde dadurch zu nahen, daß sie in der Art des weißen Storches dem Menschen begegnen wollen. Sie horsten auf den Dächern seiner Häuser und Ställe und kehren jährlich zum alten Nest zurück. Sie nisten auch weit hinauf nach dem Norden, als wollten sie ein Gebiet erobern, das die anderen Gressores nie betreten. In Bau und Gestalt haben die weißen Störche etwas, das ihnen die Zuneigung der Menschen gebracht hat. Die Kinder lieben sie und erwarten von ihnen, daß sie die kleinen Geschwister bringen werden. Sie singen noch heute:
Storch, Storch, guter,
Bring mir einen Bruder,
Storch, Storch, bester,
Bring mir eine Schwester.
Und die Großen lächeln über diesen Aberglauben oder verdammen diesen Unsinn.
Ist es dieser Überheblichkeit des Intellektes zuzuschreiben, daß der Adebar es allmählich aufgibt, die Behausungen Mittel- und Nordeuropas zu besuchen und sich von ihnen immer mehr zurückzieht? Wir wissen wohl, daß er nicht unsere Kinder bringt, aber was war es, das durch lange Zeit hindurch uns dieses innere Bild vermittelte? Siewert¹° beschreibt ein Erlebnis, das uns vielleicht auf die Spur einer Antwort führen kann.
«In einem kleinen pommerschen Städtchen erschienen die Störche gerade, als die Schule zu Ende war. Die Kinder strömten auf die Straße, und ein kleiner Knirps, der die großen Vögel bald erblickt hatte, schrie seine Entdeckung von den Klapperstörchen in die Welt. Da gingen alle Augen hoch, und alle Gesichter lachten beim Anblick der Langbeine unter dem blanken Himmel. Aber nicht nur die Kinder freuten sich, alle anderen Menschen schauten aus den engen Gassen auf und dachten nicht mehr daran, daß erst vorgestern noch der letzte Schnee gefallen und die Luft noch winterlich kalt war. Wenn auch die Leute nicht wie vor zweitausend Jahren beim ersten Anblick der Störche zur Verehrung der Frühlingsboten auf die Knie sanken, so war doch die Freude bis auf den heutigen Tag geblieben, denn die Wanderer brachten ihnen ebenso wie in alter Zeit mit der Sonne und Wärme des Südens den Frühling ins Land, und der lange Winter mit seinen Schrecken war vergessen.»
Was hier beschrieben wird, öffnet den Blick in die Aufgaben- und Zielwelten der Störche. Wenn Siewert meint, daß sie Boten des Frühlings im Norden Europas waren, so ist das wohl richtig. Die Menschen aber fielen vor zwei- und dreitausend Jahren beim Anblick der Vögel deshalb in die Knie, weil sie wußten, daß sich mit ihnen zusammen nun die Seelen der ungeborenen Kinder der Erde näherten und daß die Zeit der Begattungen anfängt. Rudolf Steiner hat uns öfter darauf hingewiesen, daß bei den germanischen Stämmen bis ins erste Jahrtausend v.Chr. herein die Geburten so geregelt waren, daß sie vorwiegend um die Weihnachtszeit stattfanden.¹¹
Ein Herold der Ungeborenen, der zu Gebärenden, war der weiße Storch, wenn er im Frühling in den nördlichen Gegenden auftauchte. Er klapperte die Zeit der Hochzeiten heran, und wenn heute noch - am Karfreitag - die Jugend mit Ratschen und Klappern durch die Dorfstraßen ziehen, dann erinnern sie uns an diese vergangenen Zeiten.
Die Störche bauen ihr Nest auf den Häusern der Menschen und mahnen sie in dieser Gebärde daran, daß ungeborene Seelen darauf warten, aus den Himmelswiesen in das Erdenland getragen zu werden. Diese mythische Wahrheit wurde im Gang der letzten Jahrhunderte vom Intellekt verniedlicht und verdorben, bis die dummen und lächerlichen Bilder des Klapperstorches, der einen Säugling im Schnabel trägt, daraus entstanden sind. Dahinter aber enthüllt sich die wahre Verkündigung, die der Storch als Frühlingsbote den Menschen des Nordens einstmals gebracht hat.
Begleitet wurde - und wird auch manchmal heute noch - der weiße Storch von seinem dunklen Bruder. Der schwarze Waldstorch (Ciconia nigra) aber flieht die Menschen. Er baut sein Nest auf einzelnen hohen und ganz besonderen Bäumen in der Tiefe der Wälder. Dort versorgt er seine Brut und zieht im Herbst ebenso wie sein weißer Bruder zurück nach Afrika.
Die Wanderungen der Störche sind jetzt gut erforscht. Unter Umgehung des Mittelmeeres ziehen sie auf zwei hauptsächlichen Straßen vom Norden nach Süden. Die östliche Route führt über Bessarabien, am Schwarzen Meer entlang nach Kleinasien. Sie geht dann über Syrien und Nordarabien weiter und quer über das Rote Meer nach dem Sudan und von dort durch Ostafrika nach Rhodesien in die verschiedenen Provinzen Südafrikas. Die westliche Route führt über Südfrankreich und Spanien nach Marokko und Algier und wahrscheinlich quer über die Sahara nach Kenya und Uganda.
Kein anderer Storch macht diese große Reise, die fast den halben Erdball umspannt. Der Sibil der Sudanesen (Abdimstorch) und der mächtige Sattelstorch, der am Blauen und Weißen Nil lebt, wandern nicht. Auch die Kropfstörche, wie der Marabu, bleiben wo sie sind und streichen nur zu verschiedenen Jahreszeiten. Diese Familie, mit nacktem Hals und riesigem Kropf, nährt sich vornehmlich von Aas. Ähnlich den Geiern (die auch einen nackten Hals haben) suchen sie das von anderen getötete oder verendete Wild. Im südlichen und mittleren Afrika lebt der Klaffschnabel und der Nimmersatt. Und drüben in Indien der indische Nimmersatt.
Alle diese in Indien und Afrika und in Südamerika lebenden Störche sind seltsame Gestalten. Im Vergleich mit ihnen wirkt der Klapperstorch wie ein Kind, das noch nicht von der Dunkelheit und der Not der Erde ergriffen wurde, sondern seine ursprüngliche Reine sich erhalten hat. Er gleicht mehr der Urform des Gruppenwesens der Störche. Die anderen haben sich zu tief mit der Schlammschicht der Erde eingelassen. Am tiefsten scheint die Gattung der Marabus gesunken zu sein. Deshalb geben sie sich mit den Kadavern zufrieden und könnten die Hyänen unter den Störchen genannt werden. Klaffschnabel und Nimmersatt (der Name sagt schon etwas über seinen Charakter) sind der Schwere und der Gier des Schnabels verfallene Arten.
Aus ihnen hebt sich der Hausstorch deutlich heraus. Er verläßt die mit Nahrung reichlich bestellten Gründe Afrikas und zieht jedes Jahr hinauf in den Norden, um den Menschen seine Botschaft zu bringen.
Seit die Menschengeschlechter aber den Weg zur Freiheit beschritten haben und ihre Kinder zu allen Zeiten des Jahres geboren werden, ist Adebars Auftrag zu Ende gekommen. Seit Anfang dieses Jahrhunderts verschwindet er zusehends aus Mittel- und Nordeuropa. Er hat nun begonnen, sich in Südafrika anzusiedeln, und viele einzelne Storchfamilien wurden beim Nistgeschäft dort schon angetroffen. Wird er für immer dieses Land zu seiner Heimat machen und Europa ganz vergessen? Ist es vielleicht gar so, daß er die weißen Siedler begleitet und sich ihnen vergesellschaftet? Wer weiß es? Das Schicksal der Gruppenseelen der Tiere ist so mannigfaltig wie das der menschlichen Individualitäten. Nur manchmal ist es uns gegeben, eine Ahnung von ihrer wirklichen Aufgabe zu erhaschen.
5 Vom Seelenbild der Schwäne und Störche
In der Grimmschen Sammlung ist das Märchen von den sechs Schwänen zu finden. Es erzählt die Geschichte vom König, der sich auf der Jagd in einem tiefen Wald verirrte und dann zu einer Hütte kam, in der ein schönes Mädchen auf ihn wartete. Deren Mutter aber war eine Hexe, die den König zwang, ihre Tochter zu seiner Gemahlin zu machen; nur dann würde er den Ausgang aus dem dichten Wald gezeigt bekommen. So geschah es; der König nahm die schöne Hexentochter zur Frau, verbarg aber seine Kinder aus erster Ehe - sechs Knaben und ein Mädchen - auf einem einsamen Schloß; den Weg zu diesem Schloß zeigte ihm ein Wunderknäuel, mit dessen Hilfe er seine Kinder oft besuchen konnte. Die böse Frau aber bemächtigte sich durch Verrat des Wundergarnes und verzauberte die sechs Knaben in sechs Schwäne. Das Mädchen, das im Haus geblieben war, blieb von der Verwandlung ihrer Brüder verschont.
Das ist der erste Teil des Märchens, das deutlich aus zwei miteinander verflochtenen Geschichten gebildet wird. Die erste Erzählung berichtet vom König, dem Menschen, der sich in die Erdenwelt, den dunklen Wald, verstrickt und nun gezwungen ist, sich dem schönen Schein, der Tochter der Erbsünde, zu vermählen. Die heiligen Sprossen aus der ersten, der sündenfreien Ehe, werden in einem unzugänglichen Schloß aufbewahrt. Ist nicht jenes nur durch einen Wunderknäuel erreichbare Schloß der hohe Norden, das mythische Land der Hyperboräer? Dorthin kann der Zauber zwar dringen und die Kinder in Schwäne verwandeln, nicht aber sie vernichten. Die sechs verzauberten Brüder sind Seelenkräfte, die zwar verborgen, dennoch vorhanden sind und einmal wieder erlöst werden sollen. Auf diesen Seelenkräften - den Schwänen - zieht jährlich Apollo aus dem Norden nach Delphi, um den Menschen Erneuerungs- und innere Sonnenkräfte zu bringen.
Es sind die gleichen Kräfte, welche die Eingeweihten des dritten Grades sich erworben hatten und die man daher als «Schwäne» bezeichnete. In einem (unveröffentlichten) Vortrag vom 3.Dezember 1905 sagte Rudolf Steiner darüber: «Die dritte Stufe (der Einweihung) ist die des Schwans. Ein Schwan ist derjenige, der so weit gekommen ist, daß alle Dinge zu ihm sprechen, auch die ihr Bewußtsein auf höheren Ebenen haben ... Man muß sich erheben zu höheren Welten, um das ‹Ich›, den Namen des anderen Wesens zu finden. Da sprechen die Dinge die eigenen Namen aus ... Schwäne waren diejenigen, die ihren Namen nicht mehr tragen dürfen, denen aber die ganze Welt ihre Namen offenbart.»[g]
Dieser Hinweis hilft, die zweite Erzählung des Märchens zu erfassen. Denn die Schwester der sechs Schwäne erhält den Auftrag, durch sechs Jahre hindurch stumm zu bleiben; also für jeden ihrer Brüder ein volles Schweigejahr zu halten. Gleichzeitig müsse sie sechs Hemdchen aus «Sternenblumen» nähen. Das Mädchen faßt den Entschluß, diese Aufgabe zu bestehen. Es geht in den Wald, setzt sich auf einen hohen Baum und beginnt mit der Arbeit. Da kommt ein anderer König mit seinen Jägern in den Wald. Diese finden das Mädchen, und obwohl es sich wehrt, wird es vom Baum heruntergeholt; der König nimmt es auf sein Pferd und macht es zu seiner Frau. Das Mädchen aber bewahrt ihr Stummsein, trotzdem die böse Mutter des Königs es dauernd verleumdet, verklagt und ihr die neugeborenen Kinder raubt. Sie bleibt ihren Schwänen treu. Endlich, als es schon auf dem Scheiterhaufen steht, um verbrannt zu werden, sind die sechs Jahre um. Die sechs Schwäne kommen herangeflogen, die sechs Hemdlein werden ihnen zugeworfen, und die sechs Brüder sind mit der Schwester wieder vereint. Nun darf sie sprechen und dem Gemahl ihre Unschuld beteuern. Das Schicksal der Schwäne ist damit erfüllt.
Der Auftrag des Schweigens gilt auch in der Lohengrin-Sage. Sie erzählt vom Sohn des Parsifal, der von einem Schwan geführt ins Land Brabant kommt, um dort Frieden zu stiften. Er ist einer, der das Gebot des Schweigens hat, obwohl es sich bei ihm nur auf das Ver-schweigen des eigenen Namens bezieht.
Das Märchen von den sechs Schwänen erzählt also zwei Geschichten: Die eine handelt von der Verzauberung und die andere von der Erlösung der sechs Brüder. Die Verzauberung geschieht durch die Frau des ersten Königs; die Erlösung durch die Gemahlin des zweiten Königs. Diese aber ist die Tochter des ersten und die Schwester der sechs Schwäne. Der erste Teil des Märchens ist die Geschichte des vorchristlichen Menschen; darin wird die Sage von Apollo verhüllt dargestellt. Der zweite Teil reicht schon in die christliche Zeit herein und berichtet in Märchenart die Lohengrin-Erzählung. In beide spielt geheimnisvoll der Schwan hinein.
Nun gibt es eine Angabe Rudolf Steiners, in welcher der wahre Hintergrund der mittelalterlichen Schwanenritterorden erläutert wird. Dort wird dargestellt, wie die Grenze zwischen Lebenden und Verstorbenen in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung noch nicht so undurchdringlich war, als sie es später geworden ist: «Die Toten blieben bei den Lebendigen, und besonders hervorragende verehrte Persönlichkeiten, sie machten in der ersten Zeit nach ihrem Tode, also in der ersten Zeit, nachdem sie für die geistige Welt geboren waren, gewissermaßen das Noviziat durch für das Heiligwerden. Und ... eine Anzahl dieser Menschen, die lebendige Tote waren, sie wurden, wenn sie besonders Auserwählte waren, zu Hütern des heiligen Grales bestellt ... ja, die Hüter des Grales waren keine wirklichen Menschen.» Und dann wird weiter erklärt, daß Menschen hier auf Erden zu Trägern, zu Repräsentanten dieser Hüter wurden, und daß solche Träger in den verschiedenen Schwanenorden vereinigt waren. «Dem Schwanenorden haben sich diejenigen gewidmet, welche wollten, daß die Gralsritter durch sie hier in der physischen Welt wirken können. Und man nannte einen Schwan einen solchen Menschen, durch den ein solcher Gralsritter hier in der physischen Welt wirkte.»¹²
So stellt sich das Bild des Schwans im Zusammenhang mit dem Wirken auserwählter Verstorbener dar. Im Schwan hat ein «Dahingegangenes», ein «Dahingeschiedenes» Gestalt angenommen. Seine Wesenheit weist daher auf ein Vergangenes hin, das den Menschen auf Erden entschwunden ist. Die Seele empfindet, daß sie im Erdenleib zur Gans und zur Ente wurde, daß aber ein Schwanhaftes ihr entschwunden ist, das zu suchen und zu erlösen, ihr zum Auftrag wurde. Sie, die Seele, identifiziert sich mit der Schwester der sechs Schwäne und kann an ihrem Beispiel die Kraft finden, in der Qual und Not der Erde durchzuhalten, bis die verlorenen Schwanenbrüder ihr erscheinen. So kehrte Lohengrin bei Elsa von Brabant ein und diente im Heer Kaiser Heinrichs I. im Kampf gegen die Ungarn.[h] Seitdem sind manche Schwanenritter in Zeiten der Not und Trübsal als Boten des Heils erschienen. Dann kann die Seele weiter an den «Sternenblumen-Hemden» nähen, um am Ende der Probezeit das Öl in ihren Lampen zur himmlischen Hochzeit bereit zu haben.
In der vorchristlichen Zeit wurden Seelenkräfte, die einstmals vorhanden waren, verzaubert. Sie wurden zu den sechs Schwänen, die nur im dritten Grad der alten Einweihung wieder entzaubert werden konnten. In der christlichen Zeit aber gelang es Menschen, auch ohne innere Schulung, sich zu Trägern hoher Verstorbener zu machen, und dadurch wurden sie Boten, Ritter des Schwanenordens.[i]
Im mittelalterlichen Lohengrin-Epos gibt es eine Stelle, die sehr deutlich von dieser christlichen Kraft des Schwanes erzählt. Als er seinen Herrn im Kahn übers Meer trägt, bittet dieser ihn um Nahrung; der Schwan taucht seinen Kopf in die Wellen
In solcher Art, als ob er Fische meine.
Sieh, da ward eine Hostie klein
Getragen von der Flut hin zu dem Munde sein,
Die sah der Ritter trocken doch und reine
Der Schwan sie mit dem Schnabel sein dem Helden überweiset,
Der nahm sie hin mit froher Eil
Und aß sie halb und gab dem Schwan das andre Teil;
Nie ward ein Fürst noch Vogel so gespeiset.
Und nach dieser Speisung fängt der Schwan zu singen an; nun ist es an Lohengrin zu erkennen: «Dies ist fürwahr ein Engel rein, der hier auf diesen Wogen bei mir schwimmet.»
Ein anderes Bild erschließt uns der Storch. Sein verehrungsgetragener Bruder, der Ibis, war den alten Ägyptern heilig. Sie achteten ihn so hoch, daß sie die Leiber verstorbener Ibisse einbalsamierten und in besonderen Gräbern beisetzten. Auf die Tötung eines Ibis, auch wenn sie absichtslos geschah, stand Todesstrafe. Der Täter wurde gesteinigt oder gelyncht.
Der zweimal große Thot,[k] den die Griechen den Hermes Trismegistos hießen, wurde oft mit dem Kopf des Ibis abgebildet. Auch seine Hieroglyphe war ein schematisierter Ibis. Auf dem Haupte trug der Thot-Ibis die Mondenschale, in der die Sonnenscheibe schwebte. Thot war der Initiator der ägyptischen Kultur. Er war der Gott des Wortes und der Schrift und ist oft mit dem Griffel in der Hand dargestellt.
Was für die Ägypter der Ibis war, wurde für die nördlichen Völker der Storch. Er war weise genug, ihnen das Kommen der ungeborenen Seelen anzuzeigen, die zur Inkarnation in die Erde bereit waren. Trotzdem er ein weißes Gewand trug wie der Schwan, bot er der Seele ein ganz anderes Bild dar. Nicht Herzens-, sondern Weisheitskräfte waren ihm zu eigen. Nicht ewig jung gleich dem Schwan, sondern alt und klug wie eine Wehmutter, erschien er der Seele.
Der Schwan ist mit den Dahingegangenen, der Storch mit den Ungeborenen, Noch-nicht-Gekommenen verbunden. Ibis und Thot waren dem Monde verwandt; der Schwan dem Reich der Sonne. So kamen auch Apollos Schwäne aus dem Sonnenreich der Hyperboräer [l] des Nordens.
Die Störche aber zogen alljährlich aus den südlichen Mondregionen der lemurischen [k] Zonen hinauf nach dem Norden Europas. Weisheit und Demut hielten sich in diesen Vogelzügen die Waage. Die ins Sonnenreich aufsteigenden Seelen der Verstorbenen waren im Land, das vom Geist der Schwäne durchwirkt war. Die aus der Mondensphäre zur Erde wiederkehrenden Seelen wurden den Störchen verwandt.
Die Opferkraft des Schwanes ließ ihn die Erde bejahen; er wurde ein Nestflüchter. Die Klugheit des Storches aber hielt ihn vor einer zu starken Verbindung mit dem Erdensein zurück. Er blieb ein Nesthocker.
So stellen beide Vogelarten sich in ihrem Gegensatz und ihrem gleichzeitigen Zusammenwirken der Seele dar. Sie sind wie lebendig gebliebene Erinnerungsbilder einer vergangenen Menschheitsepoche. Einmal, da waren sie mit den Menschenseelen vereint. Sie trugen auch den Drang nach der Erde in sich.
Die Erdensubstanzen jedoch wurden hart und undurchdringlich, und nur wenige Menschenseelen konnten ihre Leiber ergreifen und ausgestalten. Da kamen die Vögel, und hartes Horn schoß an ihre ätherischen Flügel an, bildete sie zu irdischen Organen um und gab ihnen die Möglichkeit, den Planeten zu umkreisen. Sie blieben trotzdem der Sonne vereint und dadurch dem Seelenraum des Menschen.
Vielfältig gestaltete sich von da an ihr Schicksal. Träger wurden sie verschiedener Aufgaben. Manche verloren sich; andere wurden Sänger und Pfeifer; viele schlossen sich den Menschen an, wie Huhn und Taube [m]. Storch und Schwan aber blieben dem höheren Teil der Menschenseele verbunden. Sie weisen sie auf ihr Schicksal hin: Geboren zu werden und zu sterben; weise zu sein, aber Demut im Herzen zu tragen, um einmal - vielleicht - auch ein Schwanenritter zu werden. Dann wird der Storch erlöst sein.
1. Rudolf Steiner: Der Mensch als Zusammenklang des schaffenden, bildenden und gestaltenden Weltenwortes. Vorträge Oktober-November 1923. 3. Auflage, Dornach 1958.
2. Richard Gerlach: Die Gefiederten. Hamburg 1953.
3. Lorenz Oken: Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände. 7. Bd. 1. Abteilung. Stuttgart 1837.
4. Siehe dazu die umfassende Darstellung bei Wolfgang Makatsch: Die Vögel der Erde. Berlin 1954.
5. Rudolf Steiner: Weltenwunder, Seelenprüfung und Geistesoffenbarungen. 9. Vortrag.
6. Rudolf Steiner: Das Johannes-Evangelium. 14 Vorträge im Juni/Juli 1909. 8. Vortrag. 8. Aufl., Dornach 1963.
7. Brehms Tierleben. Herausgegeben von O.zur Strassen. 6. Band. Vögel. 1. Band. Leipzig 1914
8. Horst Siewert: Störche. Erlebnisse mit dem Weißen und Schwarzen Storch. Gütersloh 1955.
9. Brehms Tierleben. a.a.O.
10. Horst Siewert: a.a.O. S.148.
11. Siehe dazu Rudolf Steiner: Weihnachten in schicksalschwerer Zeit. Vortrag vom 21. Dezember 1916. [in GA 173]
12. Rudolf Steiner: Das Geheimnis der Trinität. Vier Vorträge vom 23. bis 30. Juli 1922. 1. Vortrag, Dornach 1944.
aus «Bruder Tier»; S.110ff
Unsere Anmerkungen
a] vgl. Mbl-B.E: Anm.220
b] siehe auch R.STEINER zum Brüten über den Wassern
c] vgl. die Lanugobehaarung des menschlichen Fötus
d] Der Biologe Adolf Portmann nannte den Menschen eine „physiologische Frühgeburt”, weil „sekundärer Nesthocker”, der sein Eigenleben mit einem „extrauterinen Frühjahr” beginnt. Daher ist der Mensch als „Mängelwesen” von Geburt an auf ein inniges Sozialmilieu angewiesen, wenn er sich in Vielfalt und Gestaltbarkeit der Kultur einleben soll.
e] vgl. R.M.RILKE Der Schwan
f] Delphoi in Sterea Elláda
g] Am 28.III.1907 sagte R.STEINER in Berlin (in «GA 55»): „Mit einer der großen Individualitäten der Menschheit verbunden wurde derjenige, der zwischen der Menschheit und den großen Wesen steht, der den Verkehr zwischen den großen Führern der Menschheit und den Menschen vermittelt. Ein solcher hat immer einen bestimmtenn Namen gehabt. Den nennt man in aller Geheimwissenschaft mit dem technischen Namen des «Schwan». Der Schwan ist eine ganz bestimmte Stufe der höheren Geistesentwicklung. Der Schwan vereinigt den gewöhnlichen Menschen mit dem höheren Führer der Menschheit.” (vgl. E.BOCK über die sieben Mysterienstufen)
h] Lohengrin-Mythos nach Richard Wagner
i] im Gegensatz zu den germanischen „Raben” (Odins) - siehe auch Krafttier
k] eigentlich der „dreimalgroße” Thot
l] vgl. Mbl.7
m] vgl. Mbl-B.3a
https://wfgw.diemorgengab.at/WfGWmblB03b.htm